Frank Uekötter: Der Deutsche Kanal. Eine Mythologie der alten Bundesrepublik

Der „Heide-Suez“ und die „Sehnsucht nach politischer Stabilität“ – Frank Uekötter entwirft eine neue Demokratiegeschichte

Der Wiederaufbau und die Wiedervereinigung sind bekannte Mythen der bundesdeutschen Geschichte. Dass auch die Verwirklichung von eigentlich sinnlosen Großprojekten – in diesem Fall eines 115 Kilometer langen Kanals – ein Mythos der alten Bundesrepublik ist, zeigt der Historiker Frank Uekötter in seinem Buch „Der Deutsche Kanal“.
Der Elbe-Seitenkanal ist wenig glamourös. Es ist ein hässlicher Kanal, der durch eine landschaftlich nicht besonders reizvolle Gegend verläuft. Seit 1976 verbindet er den Mittellandkanal (Edesbüttel bei Wolfsburg) mit der Elbe (Artlenburg im Landkreis Lüneburg). Dazwischen liegen unter anderem das Schiffshebewerk Scharnebeck und Schleusen in Uelzen. Der Bau dauerte acht Jahre, der Entscheidungsprozess doppelt so lange. Landesweite Bekanntheit erlangte der „Heide-Suez“, wie er umgangssprachlich genannt wird, eigentlich nur im Sommer 1976. Nur 33 Tage nach seiner Einweihung kam es in Erbstorf im Landkreis Lüneburg zu einem folgenschweren Dammbruch. Damals überfluteten etwa vier Millionen Kubikmeter Wasser eine Fläche von circa 15 Quadratkilometern. Ein Sperrtor gab es nicht, so dass der Kanal auf einer Länge von etwa 40 Kilometern trockenlief. Anschließend wurde alles wieder aufgebaut – genau wie vorher.
Der eigentliche Skandal waren aber bereits die Planung und der Bau des Kanals. Die Idee, einen „Nord-Süd-Kanal“ zu bauen, der Hamburg mit dem Hinterland verbinden sollte, existierte bereits früh, doch wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg drängte Hamburg darauf, das Projekt endlich umzusetzen. So richtig begeistert war kaum jemand. Bereits damals zeichnete sich der Niedergang der Binnenschifffahrt ab, die sowohl durch Eisenbahnen als auch durch den Straßenbau zusehends an Bedeutung verlor, zumal auch das klassische Schiffstransportgut Kohle immer stärker durch andere Energieträger – etwa Öl, das durch Pipelinesysteme geleitet wurde – aus der Mode kam. Doch trotz zahlreicher Gegenstimmen wurde das Kanalprojekt durchgedrückt. Die herbeigeredete „Achse des Wohlstands“ (149) bildete der Heize-Suez nie.
Aber wie ist es möglich, dass Großprojekte, die nicht wirtschaftlich sind und auch noch Kosten verursachen, die über die ursprünglich geplanten weit hinausgehen, trotzdem verwirklicht werden? Der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie und der Stuttgarter Bahnhof sind aktuelle Beispiele für solche „Zumutungen der Bürokratie“ (253). Frank Uekötter nähert sich dem Phänomen über den Mythenbegriff: „Mythen sind Medien der kollektiven Selbstvergewisserung. Sie sagen etwas darüber aus, wer man ist, was man will und was man befürchtet. Unschwer ist hinter den Mythen der alten Bundesrepublik […] jene Sehnsucht nach politischer Stabilität zu erkennen, die Eckart Conze als Leitmotiv der bundesdeutschen Geschichte identifiziert hat.“ (253)
Uekötters Sachbuch hat mich von Beginn an begeistert. Ich war selbst erstaunt, weil wenig bekannte Kanäle in der niedersächsischen Pampa wirklich kein Spezialinteresse von mir sind – Mythen, die auf den ersten Blick gar nicht als solche identifiziert werden können, aber schon. Der Autor zeichnet ein lebendiges Bild der alten Bundesrepublik und porträtiert Politiker, die heute kaum noch jemand kennt, etwa Hans-Christoph Seebohm, der von 1949 bis 1966 Bundesminister für Verkehr (übrigens die längste ununterbrochene Amtszeit eines Bundesministers) und eine der widersprüchlichsten Figuren der deutschen Politik war. Er schlug 1948 erstmals ein Verbot der Todesstrafe vor, aber nicht etwa aus menschenrechtlichen Gründen, sondern um nationalsozialistische Verbrecher zu schützen.
Uekötter nimmt die Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit der Bundesrepublik. In „Der Deutsche Kanal“ geht es um so viel mehr als Kanalbau, aber selbst dieses Thema wird derart interessant aufbereitet, dass man zu einer weiteren Beschäftigung damit animiert wird. Ein Blick ins Ausland, etwa in die USA, fördert Geschichten zutage, die heute vollkommen abstrus anmuten. Beim Bau des Tennessee-Tombigbee Waterways (Tenn-Tom) in Tennessee und Alabama wurden zum Beispiel mehr Erdmengen bewegt als beim Bau des Panama-Kanals. Und die „Operation Plowshare“ (52) sah unterirdische Sprengungen mit Atombomben vor, die den Kanalbau vorantreiben sollten. In Anlehnung an das biblische „Von Schwertern zu Pflugscharen“ sollten Atomwaffen zu zivilen Bauhelfern umfunktioniert werden.
Wer sich für die Geschichte der Demokratie in der Bundesrepublik und für die Hintergründe bei der Verwirklichung von Großprojekten interessiert, wird hier eine spannende und bereichernde Lektüre finden. Gut, dass es einen Wissenschaftler gibt, der sich nach der 30-jährigen Archivsperrfrist auf die Spuren der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ begeben hat, um eine solide Grundlage für dringend notwendige Diskussionen zu schaffen.

Frank Uekötter: Der Deutsche Kanal. Eine Mythologie der alten Bundesrepublik
erschienen am 30. März 2020
www.steiner-verlag.de

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