Messie gesucht #Gruppengeflüster

„MACH DICH VOM ACKER UND CASTE DEINE LEUTE WOANDERS!“

Wie funktionieren soziale Sanktionssysteme? Funktionieren sie in Zeiten von Social Media überhaupt noch? Können in sozialen Gruppen Normen noch geltend gemacht und Grenzen gewahrt bleiben, wenn alle Meinungen als gleichwertig betrachtet werden? 

In einer Ordnungs- und Aufräumgruppe mit über 20.000 Mitgliedern geht der Punk ab. Jören, ein neues Mitglied, postet vier Fotos – je zwei Vorher-nachher-Bilder von einer Küche und einem Bad. Erst sind die Räume total unaufgeräumt – der Klischeevorstellung eines Messiehaushalts entsprechend – und anschließend schön ordentlich. Jören hat eine Bitte: „Hallo liebe Gruppenmitglieder, ich schreibe hier einmal aufgrund einer außergewöhnlichen Anfrage. Für ein TV-Format der RTL-Gruppe suchen wir derzeit Menschen, die entweder unter großer Unordnung oder Putzzwängen leiden. Gemeinsam mit euch wollen wir eine Wohnung wieder komplett bereinigen und gleichzeitig Menschen mit Zwängen helfen über ihren eigenen Schaffen [sic!] zu springen. Anbei findet ihr einmal vier Bilder die vor unserem Besuch und nach unserem Besuch aufgenommen wurden um einmal ein Bild davon zu bekommen was wir gemeinsam schaffen können. Wenn ihr Interesse habt, meldet euch doch einfach bei mir und ich kann euch weitere Infos zur Sendung und zur dazugehörigen Aufwandsentschädigung geben. Beste Grüße“. Er erwähnt auch noch, dass der Post von einer der Administratorinnen abgesegnet ist, die er auch in seinem Beitrag markiert.
Zunächst fallen die vielen Wütend-Emojis auf. Der Beitrag sorgt für Unmut. Gruppenmitglieder machen sich in zahlreichen Kommentaren Luft. Einige davon gebe ich hier wieder.

Skepsis und Bedenken

Jo kommentiert: „Hallo Jören, ich empfehle dir, diese Gruppe zu meiden, da du hier weder Menschen mit Putzzwängen findest, noch Menschen die Ihre Unordnung nie in den Griff bekommen. Schaut doch mal in die Kartei eurer Laienschauspieler. Vielleicht findet sich da ein chaotischer Christian oder eine unordentliche Uschi. Dass Trash TV gestellt ist, weiß jeder hier. Also lösch doch einfach deinen Post.“

Beate schreibt: „Bis auf das Klo finde ich die Wohnung nur unordentlich, zum Messie gehört mehr.“
Und Stefanie hat Bedenken im Hinblick auf die Methode: „Eine Wohnung für Fotos aufzuräumen ist keine große Leistung.. das bekommt man sogar als Chaot hin… damit wäre noch niemandem geholfen, ansonsten ist die Frage, wer dahintersteht und ‚hilft‘. Das wäre ja eher psychologische Arbeit, wenn dieser gut ist, kann das sehr wohl einen Effekt haben und wenn jemand die Öffentlichkeit nicht stört.“ Jören antwortet: „Hallo Stefanie. Da hast du vollkommen Recht. Wir arbeiten während des Drehs immer mit einer Psychologin zusammen und versuchen natürlich auch langfristig zu helfen, denn nur mit dem aufräumen ist es nicht getan. Handelt sich schließlich bei beiden um sehr komplizierte Krankheitsbilder.“
Und wenig später gibt sich Postersteller Jören erneut verständnisvoll: „Kann die ganze Skepsis gegen verschiedene TV-Formate natürlich auch verstehen, hier geht es aber nur um ein einzelnes Angebot von unserer Produktion. Habe den Post vorher mit der Gruppenleiterin abgesprochen und denke, dass es für Betroffene durchaus eine große Hilfe sein kann. Es hat natürlich jeder das Recht, das anders zu sehen, kann man aber bestimmt anders formulieren.“ Bettina kontert: „Och, rtl formuliert doch auch nicht anders, warum so sensibel grad. Stell du dich doch zur Schau.“ Und Nicole ergänzt: „Ihr macht Eure Sendung und was geschieht danach? Meint ihr damit sind diese Menschen dann geheilt oder sollen die sich denn wieder bewerben?“
Marie findet die Herangehensweise des Senders ebenfalls bedenklich: „Auch ich bin der Meinung, wenn sie so einen Beitrag bringen wollen, dann sollen sie ein Drehbuch schreiben und sich Schauspieler dafür suchen! Grade wenn hinter dem Chaos psychische Probleme stecken sollten, gehört das, wenn der Leidensdruck zu groß wird in die Hände eines Therapeuten.“
Nicole ist hinsichtlich der Echtheit der Fotos skeptisch: „Man sieht aber, dass hier schon die Bilder gestellt sind… alleine das Bad… ich kenne messies… die haben trotzdem ihr System… und das sieht aus wie reingeworfen…  zumal das kein messiebad ist.“ Jören antwortet: „Kann dir zu 100% versichern, dass die Bilder nicht gestellt sind.“ Und Nicole erklärt: „Wie gesagt, ich kenne genügend Haushalte… ich mache das professionell ohne Bilder oder Kamera.“
Marie und Yasemin geht es vor allem um die Vorurteile, die mit Menschen, die Probleme damit haben, Ordnung zu halten, assoziiert werden. Marie schreibt: „Jeder muss selbst entscheiden, was er tut- aber bitte vorher genau überlegen, ob es das wert ist. Vor allem darf man nicht unterschätzen, wie viele Menschen das sehen – Nachbarn, Kollegen Mitschüler der Kinder (!!!!!) Arbeitgeber etc. etc. Ist das die paar Kröten wert?“
Yasemin ergänzt: „Und dann werden nach RTL-Manier die Leute in der Luft zerfetzt, als dreckig faul und Versager abgestempelt, dann kommt RTL und rettet die arme Seele und steht als Samariter da, wen wollt ihr verarschen, sorry.“

Kontrollinstanz als Teil des Problems

Was nützt eine Kontrollinstanz, die nicht funktioniert und z.B. Beiträge veröffentlicht, die einzelne Mitglieder in Schwierigkeiten bringen könnten? Aufgrund der Absprache mit der Administratorin ist das Vertrauensverhältnis zwischen Gruppenmitgliedern und der für die Veröffentlichung Verantwortlichen (Posts müssen von AdministratorInnen freigegeben werden) beschädigt. Auch die Kritik an der Administratorin ist Thema. Bettina greift zunächst den Postersteller an: „Ich sag jetzt einfach: MACH DICH VOM ACKER UND CASTE DEINE LEUTE WOANDERS.“ Darauf entgegnet Sigrid, eine Administratorin: „Liebe Bettina, bitte nicht so laut! Der Post ist mit Admin abgesprochen.“  Und Bettina erwidert: „Ja und? Deswegen muss er ja nicht richtig sein.“
Administratorin Heike rechtfertigt sich: „Der Post wurde mit mir abgesprochen! Ich persönlich bin der Meinung, wenn einem Menschen damit geholfen ist, dann macht das Sinn. Bitte bleibt bei euren Kommentaren sachlich, höflich und respektvoll. Danke!“ Cora entgegnet: „RTL und helfen… na, wenn ihr meint.“

Auch Sissi spricht sich klar gegen den Beitrag aus: „Mir ist klar, dass Sie nur ihren Job machen. Dennoch ist Ihr Post hier fehl am Platz. Sie merken sicherlich an diversen Reaktionen, dass ich mit meiner Meinung nicht alleine bin. Diskutieren bringt hier niemandem etwas!“ Cora erwidert: „Sehen die Adminas anders.“ Und Sissi antwortet: „Leider!!!!!“
Maria glaubt ohnehin nicht, dass die geschlossene Facebookgruppe ein Schutzraum ist: „Er scheint nicht der erste RTLer zu sein, der hier spickelt… Die haben Spione – das ist unschön!! Könnte man ihn sperren – diese Sendungen sind gesundheitsgefährdend und abwertend… (SuperNanny, Frauentausch u.ä.).“
Auch Anna ist entsetzt und fordert von den Admins, dem Spuk ein Ende zu bereiten: „Ernsthaft jetzt? Das ist doch fake. Das ist eine Gruppe für Motivation und nicht fürs TV gedacht. #admin ich wäre dafür, dass der Post entweder gelöscht wird oder deaktiviert wird.“ Bettina räumt ein: „Aber auch die Admins können mal irren, wär nur gut, jetzt die Notbremse zu ziehen.“
Yasemin ergänzt in Bezug auf die Rolle der Administratorinnen: „Dass Heike das zulässt ist schon traurig. Dieser Beitrag gefällt hier niemandem, die Kommentare zeigen deutlich, was man von RTL und seinen menschenunwürdigen Sendungen hält. Dass man diesen RTL-Typ Jören immer noch in der Gruppe lässt, die Kommentare deaktiviert und uns zum Schweigen bringt, zeigt wie empathielos man ist, er schnüffelt hier froh und munter weiter und die Werbung bleibt bestehen damit ein Nichtsahnender in die Falle tappt, als Admin so fies gegen die Mitglieder zu sein in das Letzte, dann erwartet man Respekt? Wo bleibt der Respekt den Mitgliedern gegenüber? Bekommt man eine Gegenleistung für die Werbung und Vermittlung von potenziellen ‚Messies‘? anders kann man sich das nicht vorstellen.“
Und dann wird der Beitrag bald geschlossen.
Jören kommt noch einmal zu Wort: „Wenn es gestellt ist, würde ich ja nicht nach Betroffenen suchen… Wie gesagt, teile die Abneigung gegen ‚Vorführ-Formate‘ und es ist ein Angebot, was niemand annehmen muss.“
Die verantwortliche Administratorin Heike kommentiert abschließend: „Wer Interesse oder Fragen hat, schreibt bitte an Jören! Ihr könnt euch auch gerne per PN an mich wenden! Ich stelle die Kommentarfunktion nun ein! Man kann es nicht jedem recht machen. Aber bitte bedenkt, es dürfen unterschiedliche Meinungen sein – jedoch sollen wir hier dabei immer höflich und respektvoll bleiben – das gehört hier zur Ordnung!“ Ihr Kommentar erhält zahlreiche Likes.

Gleichberechtigung von Meinungen

Soziale Sanktionen funktionieren also durchaus noch. Vor allem dann, wenn die Mehrheit einer Meinung ist. Selbst wenn UserInnen, die mehr Einfluss haben, weil sie z.B. AdministratorIn sind, eine Sache unterstützen möchten, bedeutet das nicht unbedingt, dass dies erfolgreich passieren kann. Durch die fast ausschließlich negativen Kommentare wird verhindert, dass sich eine Person öffentlich dazu bekennt, bei dem Format mitmachen zu wollen. Es wäre zu schambehaftet. Andererseits können Gruppenmitglieder sich durchaus auch für das Projekt interessieren und aussprechen – und zwar, indem sie bei den entsprechenden Kommentaren (etwa denen des Posterstellers oder der Administratorin, die ihren Segen gegeben hat) einen Like vergeben. Auf diese Weise kann jeder seine Zustimmung bekunden, ohne soziale Sanktionen befürchten zu müssen.
Von Seiten der Administratorin kommt zum Schluss eine auf Facebook überaus beliebte Aussage, die auf die Gleichberechtigung von Meinungen abzielt. Darauf wird immer wieder großer Wert gelegt. Ob Steingarten vs. Naturgarten, Veganer vs. Fleischesser oder divergierende Erziehungsstile. Stets gilt: Keine Meinung ist besser als eine andere. Aber ist das wirklich so? Muss die Meinung eines Mörders, der es für sinnvoll hält, einen Menschen umzubringen, um endlich Ruhe zu haben, gleichberechtigt neben der Meinung, dass Konflikte prinzipiell ohne Tote gelöst werden sollten, stehen dürfen? Natürlich kann hier argumentiert werden: Der (potenzielle) Mörder kann ja ruhig der Meinung sein, solange das sein Verhalten nicht beeinflusst. Nur ist es leider nun mal so, dass Meinungen Verhalten beeinflussen, beziehungsweise zur Rechtfertigung eines Verhaltens herangezogen werden. Und da kommt dann doch irgendwann die unbeliebte, weil unbequeme Moral ins Spiel… Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Meinungsbeliebigkeit. Leute, die Menschen für RTL-Formate casten, sollten nicht einfach überall „wildern“ dürfen, vor allem nicht in Gruppen, in denen sich tatsächlich Menschen mit psychischen Problemen und massiven Schwierigkeiten, Ordnung zu halten, befinden. Natürlich kann man da auch ganz anderer Auffassung sein, aber wer sich als Administratorin in eine verantwortungsvolle Position begibt, sollte sich doch mal Gedanken dazu machen…

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