Nora Bossong: Schutzzone

„Wollen Sie aus diesem Land eine Demokratie machen oder ein Genozidmuseum?“ – Nora Bossong erzählt von der Möglichkeit und der Vergeblichkeit, die Welt zu retten

Mira Weidner ist Anfang 30 und als UN-Beamtin in Krisengebieten und an UN-Standorten wie New York und Genf tätig. Als Mira neun Jahr alt war, trennten sich ihre Eltern und sie lebte zeitweilig bei einer befreundeten Familie in der Nähe von Bonn. Diese Monate sollten ihre Zukunft prägen, denn Darius, Lucia und vor allem der 16-jährige Sohn des Paares, Milan, hinterließen einen bleibenden Eindruck bei ihr. Darius war als Diplomat viel im Ausland unterwegs und erlebte 1994 den Anfang des Völkermordes in Ruanda, worüber er allerdings nicht sprach – offiziell war er in Genf. Weder die UNO noch die USA, Großbritannien oder Belgien griffen damals ein, als 1.000.000 Menschen auf grausamste Weise ermordet wurden. Darius verdrängt seine Untätigkeit und versucht sie zu rechtfertigen.
Mira sah als Kind vor allem, dass Darius eine Art Held war und lernte auf diese Weise schon früh, dass es Menschen gibt, die die Welt retten wollen und dazu vorgeblich auch in der Lage sind. In dieser Zeit entscheidet sich ihre zukünftige Laufbahn – nach einem Studium der Internationalen Beziehungen landet sie bei der UNO. Und Milan wird ihr auch nicht aus dem Kopf gehen. An ihn adressiert sie ihre Geschichte, in der sie ihre Arbeit und ihr Leben reflektiert. Kann die UNO wirklich die Welt retten? Was ist Verantwortung? Wie hängen humanitäre Hilfe und Macht zusammen? Was bedeutet Wahrheit? Und was bleibt, wenn man sein Leben der Arbeit verschrieben hat?
Als Mitglied einer „Wahrheitskommission“ soll Mira 2012 in Bujumbura, der Hauptstadt Burundis, herausfinden, was sich 1993 dort zugetragen hat. Wie kam es zu dem Völkermord im Herbst 1993? Wer sind die Schuldigen, wer die Opfer? Mira verfügt über die Fähigkeit, Menschen zum Reden zu bringen. In Gesprächen mit einem Warlord namens Aimé wird sie mit einer Realität konfrontiert, die alles, wofür sie sich einsetzt, infrage stellt. „Wollen Sie aus diesem Land eine Demokratie machen oder ein Genozidmuseum? Wollen Sie Politik oder wollen Sie Pädagogik?“, fragt Aimé sie. Und ihr Weltbild, in dessen Rahmen sie sich selbst vielleicht als eine Art Heldin, auf alle Fälle als Helferin begreift, wird erschüttert. Aimé erklärt: „Und Sie kommen und fahren ein paar Runden mit uns im Kreis in Ihren hochgesicherten Wagen, Sie gehen einen Burger essen drüben im Café d’Europe, zwischen Blauhelmsoldaten, die in ihrer ganzen Montur Mittagspause machen, als könnte jeden Moment eine Bombe hochgehen, ein neuer Anschlag stattfinden gerade hier, aber niemand interessiert sich in Wahrheit für Sie. Sie sind Helden, Märtyrer. Sie kommen her, um die Schuld der Welt von uns zu nehmen, aber den Tod am Kreuz müssen dann doch wir für Sie sterben.“ (141)
Wenige Jahre später wird Mira versuchen, an einer Einigung in puncto Zypern mitzuarbeiten – vergeblich. Und immer wieder stellt sich die Frage: Sind Schutzzonen wirklich Schutzzonen? Ist die UNO der Friedensstifter, der sie zu sein vorgibt? Oder geht es im Grunde genommen um eine Art Fortführung des Kolonialismus im paternalistischen Gewand eines Retters?
Sarah, eine Kollegin Miras sagt nach den gescheiterten Zypern-Verhandlungen: „Frieden ist doch ein weltfremdes Konstrukt, […] wir sind nur da, um uns gegenseitig Gewalt anzutun, für diesen oder jenen Vorteil, wer kann schon sagen, für welchen genau, vielleicht nur für den, das eigene Leben nicht ertragen zu müssen.“ (288)
Aber könnte deshalb auf die Völkergemeinschaft verzichtet werden? „Es gab die UN, die es nicht immer besser machte, aber ohne die es schlechter wäre. […] Es gab den Gründungsgedanken, plus jamais ça, den gab es ja noch, vielleicht hielt sich die Welt nicht genug daran, und wir verstanden nicht so viel von der Welt, wie wir es uns wünschten, die Orte lagen zu weit entfernt, wir konnten uns nur die Hälfte vorstellen, und selbst die stimmte nicht mit der Wirklichkeit überein. Weil sich jeder anders erinnerte, und am liebsten erinnerten wir uns an Dinge, die uns nichts anhaben konnten.“ (302f.)
Nora Bossong ist ein großartiges Buch über westliche Überlegenheit und Herrschaft gelungen, das viele wichtige Denkanstöße gibt. Auch sprachlich und stilistisch überzeugt die Autorin auf ganzer Linie. „Schutzzone“ hätte meiner Meinung nach dringend auf die Shortlist gehört.

Nora Bossong: Schutzzone
erschienen am 9. September 2019
www.suhrkamp.de

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