Claudia Hammond: Tick, tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht

„Wir erinnern uns nicht an Tage, sondern an Momente“ (Cesare Pavese) – Claudia Hammond erklärt, wie wir die Zeit wahrnehmen und wie wir unser Verhältnis zu ihr verändern können

Die Art, wie wir Zeit wahrnehmen, macht einen entscheidenden Anteil unseres Lebensgefühls aus. Depressive und suizidale Menschen nehmen jede einzelne Stunde beispielsweise als drei Mal so lang wahr, wie sie tatsächlich dauert. Angst, Verzweiflung und Langeweile führen zu einer Verlangsamung des Zeitflusses. Wer krank im Bett liegt, spürt förmlich, wie die Zeit sich dehnt, während wir im Urlaub meinen, dass die Zeit verfliegt. Dieser Verzerrungseffekt (Impact Bias) führt dazu, dass sich die subjektive Wahrnehmung der Zeit auch von Mensch zu Mensch stark unterscheiden kann. Während eine Person eine Vorlesung zum Beispiel als besonders spannend wahrnimmt, kann eine andere eine extreme Verlangsamung des Zeitflusses erleben.
Die Redakteurin und Moderatorin Claudia Hammond beschäftigt sich in ihrem Buch „Tick, tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht“ mit zahlreichen Phänomenen, die zeigen, wie Zeit wahrgenommen wird und wie sich etwas an typischen „Zeitwahrnehmungsproblemen“ ändern lässt.
Zunächst geht es um die Zeitillusion – während Kranke oder Geiseln das langsame Verstreichen der Zeit kaum aushalten, möchten Verliebte und Urlauber den Augenblick am liebsten festhalten.
Die Autorin geht auf eine Vielzahl an Experimente ein, in deren Rahmen Psychologen und andere Wissenschaftler versuchten, herauszufinden, welche Rolle das Thema Zeit für uns spielt. Der französische Höhlenforscher Michel Siffre lieferte der neu entstandenen Disziplin der Chronobiologie zum Beispiel entscheidende Erkenntnisse, indem er sich mehrfach in unzugängliche Eishöhlen einsperren ließ, um zu überprüfen, was das mit seiner Zeitwahrnehmung anstellte. Erschreckenderweise war sein Tag-Nacht-Rhythmus bereits nach zwei bis drei Tagen völlig durcheinandergeraten. 50 Meter unter der Erde verkam er innerhalb kürzester Zeit und vegetierte bald nur noch vor sich hin. Als das Experiment nach den geplanten zwei Monaten beendet wurde, fand man ihn inmitten eines hüfthohen Müllhaufens, der aus verschimmelten Apfelkernhäuschen bestand. Was seltsam war: Die zwei Monate hatte er als deutlich kürzer erlebt. Er ging davon aus, dass er noch 25 Tage in der Höhle vor sich hatte. Doch die kurze Zeit, bis er von Kollegen abgeholt wurde, empfand er als extrem lange, weil er sie ungeduldig erwartete.
Ein Basejumper und Skydiver, dessen Gleitschirm nach dem Absprung in Stücke ging, nahm die wenigen Sekunden, die er zur Lösungsfindung hatte, als relativ langen Zeitraum wahr. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung konnte er entscheiden, wie er seinen ungebremsten Fall doch noch abfangen konnte – er kam mit leichten Verletzungen davon. Wie ist es möglich, dass ein Mensch sich innerhalb von nur wenigen Sekunden derart viele Gedanken machen und dann auch noch entsprechend handeln kann? Auch hier ist die Zeitwahrnehmung der Schlüssel.
Alan Johnston, ein BBC-Reporter, der 2007 im Gazastreifen entführt und verschleppt wurde, verbrachte 114 Tage in Geiselhaft. Die Belastung durch die Ungewissheit seiner Situation konnte er nur ertragen, weil er seine Zukunft plante und an seiner Zeitwahrnehmung arbeitete.
Auch Gehirnschäden führen zu einer veränderten Zeitwahrnehmung im Hinblick auf verschiedene Denk- und Gedächtnisformen. Die Verletzung einer bestimmten Hirnregion führt zum Beispiel dazu, dass der Betroffenen nur noch in der Gegenwart leben kann.
Etwa 20% aller Menschen nehmen Zeit deutlich stärker räumlich wahr als andere. Sie haben konkrete räumliche Vorstellungen davon, welche Form die Vergangenheit oder die Zukunft haben. Manche stellen sich z.B. einen Zeitstrahl vor, der zunächst längere Abschnitte umfasst und schließlich um eine Ecke führt und die Jahrhunderte stärker rafft. Andere stellen sich die Zeit als Faden vor, oder nehmen unterschiedliche Farben wahr.
Interessant ist, dass wir eigentlich fast alle entsprechend dem SNARC-Effekt (Spatial Numerical Association of Response Codes) die Zeit als eine Art Pfeil wahrnehmen, der an die X-Achse eines Koordinatensystems erinnert. Die Vergangenheit befindet sich links, die Zukunft rechts – die Gründe dafür liegen überraschenderweise nicht nur an unserer Schreibrichtung.
Auch die Datierung verschiedener Ereignisse der Zeitgeschichte fällt uns häufig schwer, wenn wir sie nicht mit einem ganz konkreten Ereignis aus unserem biographischen Gedächtnis verknüpfen können. Selbst vermehrtes Faktenwissen (etwa die genaue Kenntnis der Umstände) hilft nur wenig dabei, ein bestimmtes Ereignis, etwa den Absturz eines Flugzeugs genauer zu datieren. Sobald der Vorfall länger zurückliegt – aber innerhalb unserer Lebenszeit -, neigen wir dazu, ihn später zu datieren. Dieses Phänomen wird als Vorwärts-Teleskopieren (Forward Telescoping) bezeichnet, denn wir ordnen einem Ereignis einen Zeitpunkt zu, der nach dem historisch richtigen liegt. Umgekehrt fallen wir ins Rückwärts-Teleskopieren (Backward Telescoping oder Reverse Telescoping), wenn ein Ereignis z.B. weniger als zwei Wochen zurückliegt. Dann neigen wir dazu, es später zu datieren – haben wir etwa eine Freundin vor zwei Wochen getroffen, gehen wir oft davon aus, dass es schon länger her sein müsste.
Doch die Richtung der Zeitwahrnehmung kann sich in einer Hinsicht doch auch unterscheiden. Dies lässt sich sehr gut anhand der folgenden Frage feststellen: „Das für Mittwoch angesetzte Meeting muss um zwei Tage nach vorne verlegt werden. An welchem Tag findet es jetzt statt?“
Hier sind zwei Lösungen möglich: Montag und Freitag. Das hängt davon ab, wie der Befragte die Zeit allgemein oder sogar in einer konkreten Situation wahrnimmt: „Die Frage nach dem Mittwochmeeting wird von Leuten, die auf etwas warten – am Abfluggate oder in der Schlange beim Mittagessen -, tendenziell mit Montag beantwortet (die Zeitbewegungsmetapher). Sie warten darauf, dass die Zeit zu ihnen kommt und sie endlich abfliegen oder essen können. Wenn jemand den Zug gerade bestieg oder verließ – oder die Gangway aus dem Flugzeug entlangging -, lautet die Antwort eher Freitag (die Eigenbewegungsmetapher). Diese Menschen hatten ihre Reise aktiv angetreten oder fühlten sich jetzt, als würden sie sich vorwärts bewegen – anstatt die Zeit nur auf sich zukommen zu lassen.“
Auch die Art der erwarteten Ereignisse kann die Wahrnehmung verändern. Wurden Menschen, die vor einem Ereignis in der Zukunft Angst hatten (z.B. Operation), befragt, wie sie das Ganze erlebten, empfanden diese Leute es so als ob ihnen die Zeit erbarmungslos entgegenkäme. Menschen hingegen, die z.B. einer Hochzeit, auf die sie sich freuten, entgegenfieberten, hatten eher das Gefühl, sich dem Ereignis aktiv anzunähern. Geht es auf Weihnachten zu oder rückt Weihnachten näher?
Besonders spannend fand ich auch den Wandel im Hinblick auf die Wahrnehmung der Zeitwahrnehmung. Das Krankheitsbild der Nostalgie wurde beispielsweise 1688 vom Arzt Johannes Hofer geprägt und vor allem im Zusammenhang mit Schweizer Söldnern, die fern der Heimat stationiert waren, beschrieben. Noch bis 1938 wurde Nostalgie als „Einwandererpsychose“, die bei Soldaten, Seeleuten, Migranten und Kindern im ersten Internatsjahr auftrat, pathologisiert. Heute nehmen wir sie als etwas positives wahr, was sich Produzenten von Unterhaltungsformaten zu Nutze machen, die ihre Rezipienten in der Erinnerung an ihre Jugend schwelgen lassen.
Dies führt gleich zur nächsten Frage: Wieso nehmen wir das Verstreichen der Zeit mit zunehmendem Alter stärker wahr? Warum beginnt die Zeit zu rasen? Der Grund liegt nicht nur darin, dass wir schon länger am Leben sind und damit bereits auf einen längeren Zeitraum zurückblicken können, sondern auch darin, dass wir in der Kindheit und Jugend sehr viel weniger Routine und Gleichförmigkeit erlebt haben. Stattdessen war alles geprägt von „ersten Malen“ – die erste Liebe, die erste eigene Wohnung, der erste Job usw. Im Erwachsenenalter lässt uns die Monotonie das Verstreichen der Zeit retrospektiv als deutlich schneller wahrnehmen, denn es passiert ja nicht mehr so viel Neuartiges.
Ausführlich widmet sich die Autorin auch den Themen Gedächtnis und Erinnerung, wobei Verblüffendes klar wird: Zukunftsdenken spielt eine entscheidende Rolle für uns und ist „vielleicht sogar die Grundeinstellung des Gehirns“. Wir orientieren uns dabei tendenziell an den extremsten Erfahrungen, denn Erinnerungen haben durchaus einen wichtigen Sinn: Sie bereiten uns auf die Zukunft vor. Auch Tagträumereien verfolgen diesen Zweck, denn es geht dabei um Erinnerungen an Ereignisse, „die zwar nie stattgefunden haben, auf die wir aber im Bedarfsfall zurückgreifen können“. Das kann zum Beispiel im Zusammenhang mit einem Flugzeugabsturz der Fall sein, für den wir ein Verhalten erproben.
Im letzten Abschnitt widmet sich die Autorin acht klassischen Problemen, die viele von uns mit der Zeitwahrnehmung haben. Das erste Problem betrifft die Wahrnehmung, dass die Zeit immer schneller vergeht. Hier kann man sich das Urlaubsparadox zu Nutze machen. Durch besonders viele Erlebnisse vergeht die Zeit schneller und retrospektiv nehmen wir sie als längeren Zeitraum wahr, da sie ja enorm viele Erinnerungen beinhaltet. Wir können die Zeit also dadurch schneller vergehen lassen, dass wir den „Autopilot“ öfter ausschalten und z.B. einen anderen Weg zur Arbeit nehmen o.ä. Mehr Abwechslung sorgt für das Gefühl, dass die Zeit nur so verfliegt. Bei Problem drei geht es darum, dass so viel zu tun ist und wir zu wenig Zeit haben. Problem vier ist ähnlich geartet, denn es geht um die Unfähigkeit vorauszuplanen. Wie können wir es vermeiden, immer wieder zu scheitern, wenn wir z.B. To-do-Listen erstellen? Wir haben oft die Tendenz, die uns zur Verfügung stehende Zeit zu überschätzen, weil wir hoffen, dass uns in Zukunft weniger dazwischenkommt, was natürlich nicht stimmt. Auch ein schlechtes Erinnerungsvermögen und übertriebene Sorgen bezüglich der Zukunft sind Thema. Hier gibt es einige verhaltenstherapeutischen Ansätze, die Abhilfe schaffen. Sorgen können z.B. in eine Schachtel verräumt oder in einen Zeitrahmen gepackt werden. Ich kann sagen: „Morgens von 8 bis 8.15 mache ich mir Sorgen und dann höre ich auf damit. Am nächsten Tag kann ich dann zur gleichen Zeit weitermachen!“
Der Versuch, in der Gegenwart zu leben (was im Extrem gar nicht wünschenswert ist, wenn man an den Mann mit dem Hirnschaden denkt, der nur noch in der Gegenwart leben konnte) sowie das Problem, vorherzusagen, wie man sich in der Zukunft fühlen wird (hier neigen wir dazu, das gegenwärtige Gefühl einfach in die Zukunft zu übertragen) gehören zu den Problemen, auf die Claudia Hammond eingeht.
„Tick, tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht“ ist ein spannendes und gehaltvolles Buch zu einem Thema, das uns sehr stark betrifft, dessen wir uns aber nicht wirklich bewusst sind, weil wir der Auffassung sind, dass unsere Zeitwahrnehmung weniger subjektiv und verzerrt ist, als sie es tatsächlich ist. Ein tolles Sachbuch, das ich nur empfehlen kann!

Claudia Hammond: Tick, tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht
erschienen am 24. August 2019
www.klett-cotta.de

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