Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft

„Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“ – Armin Nassehi analysiert den Siegeszug der Informationstechnik

Armin Nassehi ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU München. In „Muster“ widmet er sich dem Thema Digitalisierung, wobei er nicht die Frage nach den Auswirkungen (Fluch oder Segen?) aufgreift, die üblicherweise diskutiert wird, sondern nach dem Bezugsproblem fragt: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“ (12) Ein auf den ersten Blick überraschender Ansatz, aber schnell wird klar, wie wichtig diese Frage eigentlich ist.
Die Geschichte der Digitalisierung ist eine Geschichte voller Missverständnisse. So oder so ähnlich könnte Nassehis Ansatz einleitend zusammengefasst werden. Wer der Auffassung ist, dass erst der technische Fortschritt im 20. und 21. Jahrhundert uns die Digitalisierung beschert hat, täuscht sich, denn die Technologie ist lediglich die praktische Umsetzung der Befriedigung bereits vorhandener Bedürfnisse. Wir sind schon sehr viel länger eine digitale Gesellschaft, nämlich seit der Entstehung der westlichen Nationalstaaten und des bürgerlichen Betriebskapitalismus sowie der Entwicklung moderner Formen der Verwaltung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. „Wie bitte?“, mag man da fragen. „Die Digitalisierung soll so ein alter Hut sein?“ Die Digitalisierung als technologische Entität zwar nicht, die digitale Gesellschaft aber schon, denn bereits im ausgehenden 18. und anbrechenden 19. Jahrhundert wurde Sozialplanung für größere Räume erforderlich. Es musste gerechnet und geschickt geplant werden, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Und dabei ging es nicht nur um Nahrung, sondern beispielsweise auch um Bildung, die medizinische Versorgung und natürlich auch um das Militär. Die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges hatten die Zuständigen gelehrt, dass Plünderungen keine sinnvolle Alternative zu einer vernünftigen Planung sein konnten. Im 19. Jahrhundert trat schließlich Adolphe Quetelets „homme moyen“, der Durchschnittsmensch, auf die Bühne der Wissenschaft. Damit fand in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zwar nicht zum ersten Mal eine Vermessung des Menschen statt, aber der Durchschnittsmensch wurde erstmals zu einer wichtigen Größe, mit der man rechnen konnte und – um eine bestmögliche Planbarkeit zu erreichen, auch rechnen musste.
Die Digitalisierung ist also kein Produkt des Zufalls, sondern lediglich ein Sichtbarwerden der in der Gesellschaft schon sehr viel länger vorhandenen Komplexität. Deshalb stellt sie auch nicht eine fremdartige Macht, sondern eher einen Spiegel dar. Nassehi drückt das sehr gut durch folgenden Satz aus: „Die Moderne entstellt sich zur Kenntlichkeit.“ (185)
Ähnlich wie die Schrift und die Technik des Buchdrucks, die die Welt veränderte, bietet auch die Informationstechnologie eine Verdoppelung der Welt durch die Abbildung von Daten. Doch die Karte ist nicht das Gebiet – die Daten sind zwar genau, was sie abbilden allerdings nicht unbedingt.
Durch die Verarbeitung von Daten hinter unsichtbare Muster zu blicken, ist dem Menschen schon länger ein Bedürfnis, das die Informationstechnik hervorragend erfüllen kann. Dafür war sie eigentlich nicht gedacht, aber, dass etwas anders kommt als geplant, ist bei der Entwicklung von Technologien häufig der Fall. Als derart erfolgreich konnte sich die IT vor allem deshalb erweisen, weil sie Grenzkosten niedrig gehalten werden können – Daten sind immaterielle Güter und müssen nicht wie Waren produziert und gelagert werden. Zudem ist die „Ausgangsbasis der Technologie“ (190) denkbar einfach: alles beruht auf einer binären Codierung, die lediglich zwei Zustände kennt: 0 und 1. Hinzu kommt die Verfügbarkeit von Daten. Letztendlich sind es diese Eigenschaften, die für den Erfolg der Digitalisierung verantwortlich sind, denn: „Die Datenwirtschaft enthält keine inhärente Stoppregel.“ (191) Im Gegensatz zu Ressourcen wie Öl oder Kohle, die irgendwann erschöpft sind, gilt für die IT: The Sky ist the limit. Und das ist letztendlich auch das Problem: „Dass sich modernde Gesellschaftlichkeit stets als Krise erlebt, als Unübersichtlichkeit und nicht zuletzt als unkontrollierbar und unsteuerbar, liegt weniger an der für die soziologische Klassik relevanten Fragen des Sinnverlusts (Max Weber), einer fehlenden Moral (Durkheim) oder Integrationskrisen einer gesellschaftlichen Gemeinschaft (Parsons). Der Grund dafür liegt gerade im fehlenden systematischen Ort für die Gesamtregelung oder Gesamtselektivität des Systems.“ (183) Integration und Einschränkung sind dadurch nicht möglich.
Armin Nassehi leugnet nicht, dass die Digitalisierung zu Problemen oder „Störungen“ führt. Allerdings versucht er die Bewältigung dieser Herausforderungen anders anzugehen als die Mehrheit der Digitalisierungskritiker. Wer die Digitalisierung als fremde „Kolonialmacht“ verstehe, die von unserer Gesellschaft Besitz ergreift, verkennt ihre wahre Natur, der er sich in seinem Buch ausführlich gewidmet hat. Und letztendlich wird an dieser Stelle deutlich, wie wichtig es ist, eine Sache zu verstehen, um damit umgehen zu können. Genau diesen neuen Blickwinkel, der „intelligentere Steuerungs- und Beobachtungsformen“ ermöglichen soll, kann der Autor vermitteln. Deshalb ist „Muster“ ein außerordentlich wichtiges Buch, das aus Digitalisierungskritikern hoffentlich Digitalisierungsversteher macht, die sich dann der Lösung vorhandener Probleme widmen können. Einfach wegdiskutieren lässt sich die Digitalisierung nämlich sicher nicht.
Als Informatikerin und Kulturwissenschaftlerin ist „Muster“ für mich vermutlich das erhellendste Buch zum Thema.

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
erschienen am 28. Oktober 2019
www.chbeck.de

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