Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

„Dass ihr in die letzte Ecke der Welt ziehen musstet, hierher, wo der Teufel seinen Hut verloren hat.“ – Iris Wolff erzählt eine Familiengeschichte aus dem Banat

Der Auftakt von Iris Wolffs Roman „Die Unschärfe der Welt“ ist aufregend: Florentine verliert beinahe ihr Kind und muss mitten im Winter mit Schlittengespann und Zug ins Krankenhaus nach Arad fahren, wo sie auch noch eines Abtreibungsversuchs bezichtigt wird.
Rumänien in den 70er Jahren: Der Diktator Nicolae Ceaușescu hat ein Abtreibungsverbot verhängt, weil er Untertanen benötigt. Alleine der Versuch, wird mit drakonischen Strafen geahndet. In dieser Realität lebt Florentine, eine junge Pfarrersfrau, die ihr Kind auf keinen Fall verlieren will. Im Krankenhaus begegnet sie nicht nur wachsamen Ärzten, die ihr unterstellen, ihr Kind abtreiben zu wollen, sondern auch zahlreichen Frauen, die den Vielvölkerstaat repräsentieren: Einer Roma, einer Rumänin, einer Siebenbürgerin. Wenige Wochen später bringt Florentine einen Jungen zur Welt: Samuel. Sie befasst sich intensiv mit ihrem Sohn, doch bald wird klar, dass er anders ist. Er spricht nicht. Als Bene und Lothar, zwei Studenten aus der DDR, auf dem Pfarrhof einkehren, entwickelt sich zwischen Bene und dem kleinen Samuel eine besondere Beziehung. Und Florentine stellt fest, dass auch Bene und Lothar mehr als nur Freunde sind. Hannes, Florentines Mann, bekommt wegen der Gäste aus der DDR sogar Ärger mit der Polizei – Alltag in einer Diktatur.
Schließlich fängt Samuel doch noch an zu sprechen. Und dann gleich in mehreren Sprachen. Neben Deutsch auch noch Rumänisch und Slowakisch. Er findet Freunde, vor allem Oswald, genannt Oz, der als kleines Kind als einziger anwesend war, als seine Mutter starb. Und Samuel verliebt sich – in die Slowakin Stana.
Gemeinsam mit Oz flieht er auf abenteuerliche Weise in den Westen, wo es ihm schwer fällt, Wurzeln zu schlagen. Eines Tages trifft er einen Buchhändler, der ihm nahe ist – und ein Kreis schließt sich. Nach dem Umsturz, kehrt er zum ersten Mal seit seiner Flucht wieder ins Banat zurück und erlebt dort eine Überraschung…
Iris Wolff erzählt die Geschichte einer deutschen Familie in Rumänien. Von Samuels Großmutter Karline, über seine Eltern Florentine und Hannes bis zur nachfolgenden Generation wird ein Bogen geschlagen, der sich über Zeiten und Länder hinweg erstreckt. Sprachlich ist das Buch ein Juwel. Iris Wolff schreibt poetisch und klar. Inhaltlich wird die politische Situation in Rumänien aufgegriffen und vom Leben in der DDR und in der Bundesrepublik erzählt. Bisweilen hatte ich den Eindruck, dass sich die Autorin ein bisschen in der wunderschönen Sprache verloren hatte und die Geschichte etwas unübersichtlich wurde. Trotzdem ist „Die Unschärfe der Welt“ ein wunderbarer Roman, der vom Leben und der Liebe, von Verlust und Schmerz erzählt.

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt
erschienen am 24. August 2020
www.klett-cotta.de
216 Seiten

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