Deniz Ohde: Streulicht

„Und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt?“ – Deniz Ohde erzählt von den feinen Unterschieden

Deniz Ohdes autobiographischer Roman „Streulicht“ war mein persönlicher Favorit auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Die junge Autorin gewährt darin Einblicke in die Gefühlswelt einer Frau, die nach dem Studium nach Hause zurückkehrt und auf ihr Leben zurückblickt – und auf das, was gemeinhin als „Laufbahn“ bezeichnet wird. Das Zuhause, das ist eine an den Industriepark Höchst angrenzende Siedlung. Weißer Industrieschnee legt sich auf sämtliche Oberflächen „und im Hintergrund rauchten die Schornsteine des Industrieparks“. Vor dieser Kulisse wächst die Erzählerin auf. Der Vater arbeitet seit seinem 16. Lebensjahr in einer Chemiefirma, die aus der Türkei stammende Mutter ist prekär beschäftigt. Der blinde Großvater lebt mit im Haus und hortet, genau wie der Vater, alle möglichen Dinge.
Die Schreibweise ihres Vornamens, der auch deutsch ausgesprochen werden kann, markiert das Mädchen als Fremde. Er steht in keinem Lesebuch und auf keinem Schulranzen. Nicht einmal ihre Freundin Sophia, die wohlbehütet aufwächst – mit Reitstunden und Ballettunterricht – und ihr Freund Pikka können sich so richtig gut in die Welt des Mädchens hineinversetzen, das nicht nur unter Ausgrenzung und klassistischer Abwertung leidet, sondern in traumatisierenden Verhältnissen aufwächst. Der Vater ist Messie: „Das ganze Leben meines Vaters war eine einzige Ersatzhandlung. Er hortete Zeitungen und Konserven, sammelte Prospekte, die vor Monaten eingeschweißt in dünnes Plastik im Briefkasten gelegen hatten und von denen täglich neue hinzukamen. Jede Fernsehzeitung hob er auf; sie waren adressiert an seine Mutter, die ich nie kennengelernt hatte. Er hatte mit sechzehn angefangen zu arbeiten, etwas anderes, ein eigenes Wollen, war für ihn nicht denkbar gewesen. Das Wort Wunsch war verboten, es gehörte in die Welt der Groschenromane, die seine Mutter im Zeitschriftenladen in der Ortsmitte kaufte, wenn sie Geld übrig hatte vom Putzen. Wünsche waren eine Sache der anderen, der Sentimentalen (der Frauen) oder derer, die es sich leisten konnten. Man durfte zu keiner Bürde für die Familie werden, indem man etwas wollte.“
Begründet wird das Verhalten stets mit der Vergangenheit: „Was ihn antrieb, war die Angst, nichts zu haben. Es wäre ihm nie eingefallen, etwas auszusortieren, weil immer eine schlechte Zeit kommen konnte. ‚Wir wurden zweimal ausgebombt‘, war Erklärung genug, warum es zwei Brote und nicht nur eins sein mussten, warum nicht eine reduzierte Zehnerpackung Socken bei real, sondern besser zwei. Eine Mischung aus Völlerei und Selbstkasteiung.“
Hinzu kommt eine Neigung zu Gewaltausbrüchen, für deren Zustandekommen das Kind immer empfindlichere Antennen entwickelt. Wenn ihn die Wut packt, wirft der Vater zum Beispiel mit dem Aschenbecher. „Ich lebte in einem anderen Zeichensystem. Die geringste Änderung an der Ausrichtung der Möbel richtig zu deuten, konnte für mich überlebenswichtig werden. Ich musste erkennen, was in der Wohnung geschah, schon wenn ich zur Tür hereinkam, musste prüfen, ob die Luft aufgeladen war, wie jemand, der auf dem Land lebt und sich vor einem Gewitter in Sicherheit bringen muss.“
Die ständige Anspannung, die Alarmbereitschaft angesichts dieser Gewaltausbrüche, führen dazu, dass das Kind in mehrfacher Hinsicht leidet. Die Beschreibung der Situation liest sich wie ein typischer Bericht einer Traumatisierten. Das Mädchen kann sich auch in der Schule nicht mehr konzentrieren: „Der angetrocknete Wein in den Kochtöpfen wurde zum Auslöser eines Reflexes, gleich dem Blinzeln mit den Augenlidern und dem Drücken des Knopfes bei Gefahr. ‚Sei still, sei still‘, sagte meine Mutter, und still war ich, anstelle der Regionen, die für das Speichern von Vokabeln zuständig waren, befand sich in meinem Gehirn ein Areal von Stille, eine Qualität von Stille, wie sie auftrat kurz nach dem Geräusch von zerberstendem Glas.“
Selbst ihre beste Freundin hat ihr Verhalten oft fehlinterpretiert: „‘Du tauchst immer so aus dem Nichts auf‘, hat Sophia oft zu mir gesagt, und ich habe gelächelt, als wäre meine Lautlosigkeit eine charmante Eigenschaft und nicht Ausdruck einer erlernten Überlebensstrategie.“
Das wissbegierige Mädchen möchte lernen. Die Zehnjährige schafft es ans Gymnasium, wo bereits den Kindern Distinktionsdenken beigebracht wird: „Den Lehrern war es ungemein wichtig, uns klarzumachen, dass wir die zukünftige Elite seien; sie benutzten diese Wendung in Nebensätzen, manchmal riefen sie auch bloß ‚Ihr seid die Elite!‘ scheinbar zusammenhanglos durch den Raum und sahen erwartungsvoll auf die dreißig zehnjährigen Schüler in Hochwasserhosen. Es handelte sich dabei um eine implizite Aufforderung, so viel ahnte ich damals schon, aber welches Verhalten genau von mir verlangt wurde, was genau damit zusammenhing, dass ich zur Elite gehören solle, verstand ich nicht, und es war auch keine Frage, die ich mir bewusst stellte, sondern vielmehr eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich daraus ergab.“
Ihr fehlt das bildungsbürgerliche Selbstverständnis – sie wächst in einem Haushalt auf, in dem der Inbegriff von Bildung in einer Frage zum Ausdruck gelangt, die der Großvater dem Vater stellt: „Hast du wieder Millionär gesehen?“ Sie selbst legt sich mit Dietrich Schwanitz‘ Buch „Bildung“ in die Badewanne: „[D]ann schlug ich im warmen Wasser liegend ‚Bildung‘ auf und las einige Sätze über die griechische Antike, und weil ich glaubte, dass elitäre Personen sich jeden Satz genau merkten und jeden Satz genau verstanden, und weil ich mir keine Vorstellung mehr von ‚verstehen‘ machen konnte, weil ich nicht wusste, wie sich ‚verstehen‘ bemerkbar machte, weil ‚verstehen‘ zu einem mystischen Zustand elitärer Personen geworden war, kam ich über den ersten Absatz nicht hinaus.“
Und dann passiert das, was eigentlich nicht passieren dürfte, weil wir uns in Deutschland Bildungsgerechtigkeit auf die Fahnen schreiben: Ein junger Mensch fällt durch das Raster. Die Jugendliche, die sich immer so viel Mühe gegeben hat, erhält ein Zeugnis mit dem Vermerk: „Muss die Schulform verlassen“.
An dieser Stelle ihres Lebens, an der sie aus der Kurve fliegt, hätte das Ganze einen Verlauf nehmen können, der nicht auf die Shortlist für den Deutschen Buchspreis geführt hätte. Und das nur, weil es in Deutschland eben doch keine Bildungsgerechtigkeit gibt: „Das Warum der Bewerbungshelferin wäre nicht nötig gewesen, auch das des Schulleiters nicht. Man hätte mein schlechtes Zeugnis aus der neunten Klasse betrachtet und mit den Schultern gezuckt. Selber schuld. Dass etwas daran grundsätzlich falsch sein könnte, war ihnen fremd. Wenn ich es beim Schulabbruch belassen und keinen zweiten Anlauf unternommen hätte, wenn ich eine Lehre zum Busfahrer oder zum Gärtner gemacht oder mich mit Minijobs über Wasser gehalten hätte, hätte sich keiner über die Brüche in meinem Bildungsweg den Kopf zerbrochen. Aber ich hatte standgehalten, ich hatte stillgesessen, gesprochen, ohne die Hand zu heben, ich hatte nach x aufgelöst, die Transferaufgaben studiert, bis ich den Trick kannte, ich war dabei auch noch erfolgreich gewesen und nun sprang mir die Ratlosigkeit aus dem Gesicht der Bewerbungshelferin entgegen.“
Nur dem eigenen Durchhaltevermögen, dem Willen, zu lernen und dem Glück, auch Menschen zu begegnen, die an einen glauben, hat die junge Frau es zu verdanken, doch noch den eigenen Weg gefunden zu haben. Eine Vertretungslehrerin an der Abendschule, die sie nach dem Ausscheiden vom Gymnasium besucht, erkennt ihr Potenzial. Und es kommen Fragen auf, die wir uns auch in Deutschland unweigerlich stellen müssen: „‘Wie konnte dieses Kind durch die Maschen fallen? Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.‘“
Das Leben der Ich-Erzählerin ist ein ständiges Ringen um Zugehörigkeit. Sie erbringt unfassbare Anpassungsleistungen, gibt sich unendlich viel Mühe – und scheitert trotzdem, um es in einem zweiten Anlauf dann doch noch zu schaffen.
Ihre Unsicherheit bleibt auch an der Universität erhalten: „Ich nannte meine Kommilitonen Kommolitonen, ich konnte mir die richtige Aussprache einfach nicht merken und wusste nicht einmal, was es hieß; ich sprach es den anderen nur nach.“
Der erste Job nach Abschluss des Studiums ist ein Putzjob, weil Bildung allein eben noch kein bildungsbürgerliches Selbstverständnis formt.
Es ist ein harter Weg, den die Erzählerin gegangen ist. Von den vielen Steinen, die ihr dabei in den Weg gelegt wurden zu lesen, ist bestürzend.
Deniz Ohde hat einen scharfsichtigen und zugleich sensiblen Bildungsroman geschrieben, der mich sehr berührt hat. Sprachlich wunderbar erzählt, gewinnt man Einblicke in die Gefühlswelt eines Menschen, der in verschiedenen Systemen viel zu oft beinahe zermalmt wird. „Streulicht“ zeigt die Verletzlichkeit des Menschen und den Umgang damit. Schade, dass Deniz Ohde dafür nicht den Deutschen Buchpreis erhalten hat.

Deniz Ohde: Streulicht
Suhrkamp Verlag
284 Seiten

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