Rezension: „Die Inschrift“ von Andrea Camilleri

Zu Gast bei den sizilianischen Schildbürgern – Eine faschistische Provinzposse

Andrea Camilleri ist eigentlich für seine Commissario Montalbano-Krimis bekannt. Dabei ist die Liste seiner Romane, Erzählungen und Hörspiele sehr viel länger. Das jüngste ins Deutsche übersetzte Werk des 92-jährigen sizilianischen Autors und Regisseurs ist „Die Inschrift“ (ital.: La targa, 2015).
In der Geschichte, die knapp 50 Seiten umfasst, geht es um den Faschismus in dem fiktiven sizilianischen Örtchen Vigata.
Am 11. Juni 1940, einen Tag nach Kriegseintritt Italiens an der Seite Deutschlands, taucht im Verein „Faschismus und Familie“ Michele Ragusano auf, der fünf Jahre Verbannung aufgrund „systematischer Diffamierung des ruhmreichen faschistischen Regimes“ hinter sich hat. Es ist natürlich kein freundlicher Empfang, der ihm bereitet wird, – man will ihn so schnell wie möglich rauswerfen, doch die graue Eminenz der Faschisten im Ort, der über 90-jährige Don Manueli Persico, setzt sich für den Geächteten ein, denn seine Frau hat die ganze Zeit den Vereinsbeitrag brav weiterbezahlt und der Betrag von 100 Lire wurde Ragusano nie rückerstattet. Man beschließt, den Abtrünnigen rasch loszuwerden und sammelt das zu viel entrichtete Geld ein. Bevor er geht, spendet er das Geld jedoch dem Verein und verabschiedet sich von Persico mit den Worten: „Und was euch betrifft, lieber Don Manueli Persico, so revanchiere ich mich für Eure Freundlichkeit, indem ich meinen Mund halte und nicht erzähle, was ich in der Verbannung über euch erfahren habe.“ (15) Persico möchte unbedingt wissen, was das war, doch Ragusano weigert sich beharrlich, bis dem Alten der Kragen platzt: „Ja, so seid ihr, ihr Scheißantifaschisten! […] Ein feiges Pack, das bösen Klatsch, Verleumdungen und Geschwätz in Umlauf bringt… Leute ohne Würde, ohne Ehre, die in die Hand beißen, welche ihnen das Brot reicht! Den Tod verdient ihr, nicht die Verbannung!“ (16) Daraufhin rückt Ragusano doch noch mit der Sprache raus: „Der Name Antonio Cannizzaro sagt Euch nichts?“ (16) Persico schafft noch einen unvollständigen Satz und sinkt tot zu Boden. Für die anwesenden Faschisten steht fest: Ragusano ist ein fieser Mörder und Persico ein armes Opfer, das auf dem Feld der Ehre gestorben ist.
Ragusano wird wegen der tödlichen Frage zu 15 Jahren Haft verurteilt und Persico als Held gefeiert. Seine Witwe erhält eine „Vorzugspension für Gefallene im faschistischen Kampf“ und in Vigata wird eine Straße umbenannt in: „Via Emanuele Persico – gefallen für die Sache des Faschismus“. (29)
Die Witwe ist eine umwerfend schöne 25-Jährige, hinter der alle Männer her sind. Der Professore landet schließlich bei ihr, was den Arzt ausgesprochen erzürnt, weil der seit er sie ein Jahr vorher abgehört hat, jede Nacht von ihr träumt. Und was macht man da? Man macht dem anderen alles kaputt und hofft, selbst endlich zum Zug zu kommen. Doch das erweist sich als reichlich kompliziert. Zunächst muss der Arzt herausfinden, was hinter Ragusanos tödlicher Frage steckte. Der Verurteilte will damit nicht herausrücken, weil er dem Verstorbenen immer noch dafür dankbar ist, dass er ihn in Schutz genommen hat – doch kurz vor seinem eigenen Ableben, liefert er dem Arzt doch noch einen entscheidenden Hinweis, der in Persicos Vergangenheit führt. Bald ist klar, dass der gefeierte Faschist ein Mörder ist, der den Mord, den er einst in Frankreich an einem Faschisten begangen hatte, auch noch einem Freund in die Schuhe geschoben hat. Die Beweise für dieses unehrenhafte Tun des Stadthelden, hängt der Arzt über Nacht heimlich an die Rathauswand. Die Bewohner von Vigata sind zunächst außer sich, fordern einen Entzug der Witwenrente und eine Umbenennung der Straße. Doch die Stadtoberen wiegeln ab. Das wäre doch alles nur eine infame Lüge, Persico wäre wieder mal ein Opfer antifaschistischer Propaganda geworden. Doch je intensivere Nachforschungen der Arzt anstellt, desto tiefer wird der Sumpf der Schande. In Frankreich melden sich mehrere Zeugen zu Wort, die Persico dabei beobachtet haben, wie er seinem bewusstlosen Freund die Tatwaffe in die Hand drückte. Zudem kommen noch weitere Untaten ans Licht, etwa eine Verurteilung für einen Diebstahl und eine Vergewaltigung. Nach seinem Gefängnisaufenthalt hatte Persico sich als Opfer inszeniert und den Haftgrund einfach in eine Heldentat abgeändert. Auf diese Weise konnte er ein Leben lang unbehelligt und als Held gefeiert in Vigata leben. Doch als klar wird, dass sich die ganz und gar unheldenhaften Vergehen des Lokalpatrioten nicht mehr vertuschen lassen, geben die Stadtoberen schließlich klein bei: „Nach fünf Stunden äußerst erregter Diskussionen gelangte der Gemeinderat an einen toten Punkt. ‚Wie zum Teufel sollen wir diesen Dreckskerl Manueli Persico denn nun nennen?‘, platzte der Podestá heraus. ‚Auf das Schild schreiben wir ganz einfach: -Emanuele Persico – ein Italiener – Schluss, aus‘, schlug Bonavia vor. Und so kam es, dass die Straße wieder Via die Vespri Siciliani genannt wurde.“ (58)
Das amüsante und persönliche Nachwort hat die italienische Ärztin und Schriftstellerin Giuseppina Torregrossa (*1956) verfasst.
„Die Inschrift“ ist eine Provinzposse, die die ganze Lächerlichkeit faschistischer Regime aufzeigt. Während man Menschen ins Gefängnis wirft und ihren Tod in kauf nimmt, zerbricht man sich den Kopf über die Benennung einer Straße. Auch die ganzen hehren Termini „gefallen für die Sache des Faschismus“, „gefallen auf dem Felde“, „Opfer des Antifaschismus“, „faschistischer Märtyrer“ unterstreichen die Absurdität der Angelegenheit. Ein 92-Jähriger, der einen tödlichen Schlaganfall erleidet, weil er mit seiner unrühmlichen Vergangenheit konfrontiert wird, ist ein Held und Märtyrer? Aber natürlich, finden die Faschisten! Nur eins ist doof, nämlich, dass der Faschist auch noch ein Faschistenmörder war. Alles andere spielt keine Rolle, aber das ist dann doch etwas mehr als nur eine lässliche Sünde.
Andrea Camilleri ist eine sehr gute Satire gelungen, die enthüllt, worum es in (faschistischen) Diktaturen wirklich geht: Machterhalt um jeden Preis, Heldengeschichten, auch wenn sie gelogen sind und die Inszenierung als Opfer. Kommt uns das alles nicht irgendwie bekannt vor?

Andrea Camilleri: Die Inschrift
Übersetzung: Annette Kopetzki
Erschienen am 24. Januar 2018
www.rowohlt.de

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