Rezension: „Engste Heimat“ von Erica Pedretti

„Eine Wunde, die von Zeit zu Zeit schmerzt“ oder Die fragmentarische Erinnerung

(Sigrid Grün)

Heute wird die Malerin und Schriftstellerin Erica Pedretti 88 Jahre alt. Sie kam am 25. Februar 1930 in der nordmährischen Kleinstadt Šternberk (ab 1919 Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik) als Erica Schefter zur Welt. Ihr Vater, der Autor und Seidenfabrikant Hermann Heinrich Schefter, war bekennender Antifaschist und deshalb während des 2. Weltkrieges in einem Lager interniert. Nach dem Krieg wurde die Familie zwangsausgesiedelt. Im Dezember 1945 gelangten Erica Pedretti und ihre jüngeren Geschwister mit einem Rotkreuztransportzug in die Schweiz, wo die Großmutter väterlicherseits lebte. Dort lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann, den Bildhauer Giuliano Pedretti kennen.
Die traumatischen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung verarbeitet Pedretti in ihrem autobiographisch geprägten Roman „Engste Heimat“. Es sind Bilder, Fragmente, Erinnerungsfetzen, die in ihrem Werk mosaikartig aufblitzen. Nach mehr als 30 Jahren kehrte die Künstlerin erstmals zurück in die „engste Heimat“ ihrer Kindheit. Und sie muss feststellen, dass es verlogen wäre, die Geschiche ihres Lebens linear zu erzählen. Zu viel ist geschehen. Traumatisches, das Angst hervorgerufen hat und eine geschlossene Erzählung damit unmöglich macht. Die Erinnerung ist wie

[e]ine Wunde, die von Zeit zu Zeit schmerzt. Auch verheilt ist sie immer zu spüren, ähnlich dem Gefühl im Buckel, das immer ein anderes ist als im übrigen Körper und nur hie und da zu heftigen Rückenschmerzen wird. So auch diese Sprache im Ohr, die Anna ihre Kindheit zurückbringt und damit nicht nur Schönes. (153f.)

Es sind die Erinnerungen an den Großvater, der stets den „Faust“ und deutsche Lyrik rezitierte, an seinen Blumengarten, der dreißig Jahre später verschwunden ist. Und vor allem sind es die Erinnerungen an ihren Onkel Gregor, den Helden ihrer Kindheit. Er war Maler und empfahl stets „Werdet nicht Künstler!“, ging nach Paris und kämpfte in Frankreich gegen Hitler. Und er setzte seinem Leben selbst ein Ende, seine Frau Jacqueline und die traumatisierte Herkunftsfamilie zurücklassend. Diese Erfahrung prägt Anna, Pedrettis literarisches Alter Ego. Über drei Jahrzehnte nach der Flucht macht sie sich auf die Suche nach seinen Bildern, die aber zerstört oder verschachert wurden. Der Museumsleiter will nichts davon wissen und ein Maler, der sich beim Regime anbiederte, dreht fast durch, als er mit der Frage nach Gregors Bildern konfrontiert wird. Er soll die Bilder aus Neid verbrannt und teilweise auch als die eigenen ausgegeben haben. Anna, die Nichte des Malers, findet jedenfalls kein einziges Bild mehr und so schwindet auch die Erinnerung daran. Das Vergessen und die Verdrängung sind ein zentrales Thema in „Engste Heimat“, etwa in dem mit „Mohn“ überschriebenen Kapitel:

 

Niemand wird mehr davon reden. Man redet nicht mehr davon, man denkt nicht dran. Zumindest denkt man nicht daran, davon zu reden, jede Erwähnung könnte Narben aufreißen. Nicht in den Erinnerungen wühlen. Hör auf herumzustochern, damit tust du dir nur unnötigerweise weh und auch den andern, die um nichts in der Welt zurückfahren, die alten Orte nicht wiedersehen und davon nichts mehr wissen wollen, die so über die Verluste hinweggekommen sind. „Vergiss es!“ Man redet nicht mehr davon, man denkt nicht dran. Nur hie und da sagt jemand zu Hause, ohne es zu merken: „Zu Hause hatten wir immer rote Kerzen auf dem Christbaum.“ Sagt zu Hause, ohne es zu merken zu Hause, und sie meint nicht hier, wo sie wohnt, er meint nicht den Ort, an dem er seit Jahrzehnten lebt. (157)

Kennzeichnend für Pedretti ist die fragmentarische Erzählweise, die sie in dem Abschnitt „X. Die gesteigerte Aufnahmefähigkeit“ selbst zum Thema macht. Und dieser über 15 Jahre alte Text ist heute noch aktuell:

 

Unzählige Wahrnehmungen in so schneller Abfolge, dass es nicht oder noch nicht gelingt, die Dinge, alle Einzelheiten in Beziehungen zueinander oder in Bezug zur Zeit zu setzen. So dass sie wie verstreut im Leeren herumzufliegen scheinen oder wie liegengeblieben. Und auch im Nachhinein ist keine Ordnung mehr herzustellen, die möglichen verbindenden Zwischenglieder sind inzwischen nicht mehr aufzutreiben, verlorengegangen. Als ließe man die ausgegrabenen Terrakottasplitter, das war einmal eine Figur, dort ein Gefäß, unbeachtet auf einer Fundstelle liegen, so, wie sie beim Graben auftauchten.
Das andere wäre ein erwünschtes Vergessen. Zu vieles, bedrückend und fordernd, stürmt ununterbrochen ins Bewusstsein, aus der Erinnerung, oder eben Erfahrenes. Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne. Die Flüchtlinge, Füchtlingsströme auf dem Fernsehschirm, die entsetzten Schwangeren, die verhungerden Kinder, die Toten. Weg damit. (179)

Pedrettis Roman über den Verlust der Heimat und des Onkels wirft existenzielle Fragen auf, etwa die nach dem Leben nach dem Tod eines Kindheitshelden und die nach dem Leben an einem fremden Ort, an den man flüchten musste. Oder, wie Erica Pedretti es einmal selbst formuliert hat: „Wie lebt ein Mensch an einem fremden Ort (und wärs das Paradies), und hat noch alle Schrecken im Kopf?“
Eine Lektüre, die mich zutiefst berührt hat und gerade in der heutigen Zeit ausgesprochen aktuell ist.

Erica Pedretti: Engste Heimat
erschienen am 26. März 2002
www.suhrkamp.de

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