Rezension: „Würde – Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ von Gerald Hüther

Der kaputte Kompass oder Was Würde ändern würde

Der Begriff der Würde ist – trotz Verankerung im Grundgesetz an prominentester Stelle – in der heutigen Zeit irgendwie aus dem Fokus gerückt. Würde klingt fast nach Märchen, nach einem alten König auf seinem Thron. In unserer Zeit geht es um Erfolg und Effizienz. Da zieht die Würde oft den Kürzeren. Aber was bedeutet das dann für den Einzelnen und für unsere Gesellschaft? In einer Zeit, in der es Foren und Facebookgruppen gibt, in denen Würdelosigkeit Programm ist und der Unterhaltung dient, stellt sich die Frage: Was verlieren wir, wenn Würde kein Wert mehr ist?
Gerald Hüther ist Neurobiologe und einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands, der bereits zahlreiche populäre Sachbücher verfasst hat. Dabei stützt er sich stets auf neurobiologische Erkenntnisse. „Würde“ hat er gemeinsam mit dem Journalisten Uli Hauser geschrieben.
Es ist ein wichtiges Buch, weil es aufzeigt, was unserer Gesellschaft fehlt und wie man diesem Mangel begegnen kann. Hüther gibt zahlreiche Denkanstöße. Bereits das erste Zitat, eine Frage, die dem Buch widmungsartig vorangestellt ist, lenkt den Blick auf einen wichtigen Punkt: „Verletzt nicht jeder, der die Würde eines anderen Menschen verletzt, in Wirklichkeit seine eigene Würde?“ Wäre es nicht heilsam für Politiker wie Jens Spahn & Co, sich diese Frage einmal durch den Kopf gehen zu lassen? Würde ist nichts, was ein Mensch einem anderen absprechen kann. Jeder verfügt von Beginn an über sie und nur der Einzelne kann darüber entscheiden, welche Rolle sie im eigenen Leben spielt. Oder, wie Hüther es ausdrückt: „Seine Würde als Mensch kann man nur selbst verletzen.“ (141) Und das tun wir leider auch allzu oft. Wenn wir vor der Entscheidung „Würde oder Erfolg“ stehen, hat die Würde oft das Nachsehen. Aber es gibt auch Menschen, die selbst in den schlimmsten denkbaren Situationen, etwa im Konzentrationslager, ihre Würde bewahrt haben. Sie waren sich ihrer Würde bewusst und sie waren der Überzeugung, dass etwas bleiben würde, selbst wenn jemand sie umbrächte. Warum aber macht Würde uns so stark? Sie ist eine Art innerer Kompass, der uns Orientierung und damit Sicherheit gibt. Wer die eigene Würde unterdrückt, unterdrückt letztendlich sich selbst. Und wer die Würde anderer nicht achtet, kann auch die eigene Würde nicht ernst nehmen – es ist kein entscheidender Wert.
Würdeloses Verhalten gab es schon immer. Das Konzept Würde, im Sinne eines unveräußerlichen Gutes, über das jeder Mensch gleichermaßen verfügt, ist auch noch nicht besonders alt. In einem Abschnitt widmen sich die Autoren auch der Entwicklung des Würdebegriffs, der insbesondere in der Philosophie ausführlich diskutiert wurde, etwa von Kant. Würdeloses Verhalten ist also nichts Neues, aber die Probleme, die es aufwirft, erreichen durch die zunehmende Komplexität unserer Lebenswelt ungeahnte Dimensionen: „Als vorläufiges Ergebnis dieses sich selbst verstärkenden Entwicklungsprozesses entstand die hoch technisierte, digitalisierte und globalisierte Welt, wie wir sie heute kennen. Und in dieser hoch komplexen, untrennbar vernetzten und in allen Bereichen voneinander abhängig gewordenen Welt ist nun ein Problem entstanden, das ein der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hatte: Die alte hierarchische Ordnungsstruktur erweist sich als grundsätzlich ungeeignet, um die Stabilität dieser hoch entwickelten heutigen Gesellschaften zu sichern, geschweige denn ihre künftige Entwicklung zu steuern. Sie hat ihre Orientierung bietende und Ordnung stiftende Kraft durch genau das verloren, was sie selbst erzeugte: einen enormen Zuwachs an Komplexität.“ (67)
Ohne Orientierung kommt es in unserem Gehirn zu einem äußerst unangenehmen Zustand, der Inkohärenz. Diese kostet uns viel Energie und wir sind bestrebt, sie in einen Zustand der Kohärenz zu überführen. Doch die Strategien sind nicht immer vernünftig. Sieben Bier können schon dafür sorgen, dass wir Beziehungsstress erstmal vergessen, aber vermutlich führen sie dazu, dass sich das ursächliche Problem noch verschlimmert. Übertriebener Konsum ist generell eine Ersatzhandlung, die dazu führen soll, dass wir uns besser fühlen. Aber nachhaltig ist auch diese Strategie nicht. Gerald Hüther erklärt auch in „Würde“, was der Mensch alles tut, weil er die Hoffnung hegt, dadurch wieder „ins Lot“ zu kommen. Wer ständig erniedrigt wird, kann darauf reagieren, indem er den Täter ebenfalls erniedrigt, oder ein Kind fängt an zu denken: „Ja, dann bin ich wohl wirklich so blöd, da kann ich nix machen.“ Dieser Gedanke führt dazu, dass man sich die eigene Würde abspricht. Wer noch kein Bewusstsein für die eigene Würde hat, ist unsicher und leicht verführbar. Wer allerdings um die eigene Würde weiß, wirkt unerschütterbar und kann widerstehen. Er lässt sich nicht zum Objekt der Belehrungen, Bewertungen, Erwartungen oder Absichten des anderen machen. Er ist frei und er „leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit“ (130). Und er macht sich auch nicht selbst zum Objekt eigener Erwartungen und Bewertungen. Als freies Subjekt ist er dazu in der Lage, selbst zu entscheiden, welche Richtung er einschlagen möchte. Der innere Kompass funktioniert.
Doch wie ist dieser Zustand zu erreichen? „Wie soll ich als Mutter oder Vater mein Kind erziehen, ohne es dabei zum Objekt meiner erzieherischen Maßnahmen zu machen? Wie kann ich als Lehrer Kinder unterrichten und ihre Leistungen bewerten, ohne sie zum Objekt meiner Belehrung und Leistungskontrollen zu machen?“ (140) Wie sollen Führungskräfte, Krankenschwestern und Krankenpfleger die Würde ihrer Mitarbeiter bzw. Patienten wahren?
Ein ganzes Kapitel ist der Frage gewidmet: „Wie können wir einander helfen, uns unserer Würde bewusst zu werden?“ In einer Gesellschaft, die auf dem Leistungs- und Effizienzprinzip basiert, ist das gar nicht so einfach, denn das Schulsystem ist nicht darauf ausgelegt, jungen Menschen eine optimale Entfaltung zu ermöglichen, sondern darauf, alle auf den gleichen (Wissens)Stand zu bringen. Belehrung, Kontrolle und Bewertung sind die Mittel, deren man sich bedient – doch wie soll ein Mensch dabei eine Vorstellung von der eigenen Würde und damit ein solides Selbstbild entwickeln? Wieder einmal setzt Hüther dort an, wo das System versagt: bei der Schulbildung. Mit Bildung im eigentlichen Sinne hat Schule auch nicht mehr viel zu tun, wenn es vorwiegend um Leistungsbewertung geht. Letztendlich kann man Menschen, die sich ihrer Würde bewusst geworden sind, als Vorbilder betrachten. Ein Schritt auf dem Weg zum Bewusstsein der eigenen Würde, können auch die Denkanstöße in Gerald Hüthers Buch sein. Es wäre wünschenswert, dass möglichst viele Menschen sich Gedanken darüber machen und das Buch auch in die Hände von Politikern und Führungskräften gelangt.

Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
erschienen am 5. März 2018
www.randomhouse.de

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