Rezension: „Nachtleuchten“ von María Cecilia Barbetta

„Einfach nach vorne schauen“ – María Cecilia Barbetta erzählt von einer argentinischen Kleinstadt am Vorabend des politischen Umsturzes

Argentinien Mitte der 1970er Jahre. In der Kleinstadt Villa Ballester in der Provinz Buenos Aires liegt Spannung in der Luft. 1973 ist Juan Perón nach 18-jährigem Exil wieder Präsident des Landes geworden. Doch wirkliche Ruhe kehrt nicht wieder ein. Der gealterte Politiker kann die Spaltung seiner Anhängerschaft in Rechts- und Linksgerichtete nicht mehr aufhalten und richtet sich selbst immer stärker nach rechts aus. Sein Wohlfahrtsminister López de Rega versucht die Unruhen gewaltsam in den Griff zu bekommen und setzt zusehends auf die AAA/Triple A (Alianza Anticomunista Argentina – Argentinische antikommunistische Allianz), eine paramilitärische, rechtsextremistische Gruppierung, deren Konzept „Attentate, Entführungen, Morde“ (206) lautet.
In Ballester geht das Leben noch seinen Gang…
María Cecilia Barbetta, die 1972 selbst in Villa Ballester zur Welt gekommen und dort aufgewachsen ist, lässt die Stimmung im Vorfeld eines politischen Umsturzes lebendig werden. Dabei folgt sie einer ausgeklügelten Struktur. Drei Bücher mit jeweils 33 Kapiteln werden mit einem 100. Kapitel abgeschlossen. 33, das ist das Alter, das Jesus und Evita Perón erreicht haben, die den Bewohnern von Ballester beide heilig sind.
Im ersten Buch lernen wir Teresa Gianelli kennen, ein 12-jähriges Mädchen, das eine Klosterschule besucht und die Kirche – in Form einer aliengrünen Plastikmadonna ihres Großvaters – zu den Menschen bringen will, auf dass sie ruhig und erleuchtet werden. „Dadurch würde Ballester in Bewegung kommen.“ (38) Zur gleichen Zeit fängt eine junge Schwester an, in der Schule zu unterrichten – und die ist ganz schön modern unterwegs und lehrt die in Südamerika aufgekommene Theologie der Befreiung. Doch dann passiert etwas Unglaubliches im „Instituto Santa Ana“… Angeblich soll ein „Satyr“, also ein Exhibitionist, eine Schülerin belästigt haben…
Im zweiten Teil, der nach der Autowerkstatt „Autopia“ benannt ist, finden erstmals politische Diskussionen statt. Die Mitarbeiter kommen aus verschiedenen Ländern und spüren, dass etwas in der Luft liegt. Als schließlich Juan Perón mit Ende 70 stirbt und seine dritte Ehefrau die Regierungsgeschäfte übernimmt, wird die Unsicherheit greifbar. Im Friseursalon „Ewige Schönheit“ sitzt die geistig umnachtete Mutter des Friseurs Celio stumm auf ihrem Stuhl – und bekommt nichts mehr mit vom Umsturz, der sich anbahnt. Teresa trägt ihre nachtleuchtende Madonna immer noch von Haus zu Haus, aber Ruhe kehrt nicht wieder ein – im Gegenteil. Eine migränegeplagte Ehefrau und Mutter entdeckt die Freiheit für sich, geht fremd und verschwindet schließlich, und der schreibende Automechaniker Álvaro Fatini haut unter dem Einfluss des „außerirdischen Madonnenaufenthalts“ (341) wie ein Besessener in die Tasten…
Im dritten Abschnitt ist Celios Mutter schließlich tot, die Madonna wandert weiter und der Spiritismus greift immer stärker um sich. Die Jugendlichen nehmen mit Hilfe von „Ouija“ Kontakt zum Geist Blabla auf und werden bei ihren gottlosen Geschäften auch noch erwischt. „Ballester wird heimgesucht.“ (494)
Es ist ein Panorama des Alltags, das die Autorin hier entwirft. Wer eine spannungsgeladene Geschichte erwartet, wird enttäuscht werden – die Spannung liegt in der Luft und nicht in der Handlung. Das Mosaik wird durch die nachtleuchtende Madonna, die ihren beschützenden Blick über alle breitet, zusammengehalten. Doch es ist fraglich, ob sie ihren Auftrag, die „Transformation zum Guten“ (434) erfüllen können wird – und ob sie die Sache überhaupt überlebt.
Barbetta erzählt meisterhaft von den „kleinen“ Leuten einer Kleinstadt. Klein bedeutet in diesem Falle nicht unbedingt „einfach“, sondern „normal“. Es sind keine Politiker oder Angehörige einer Elite, die im Mittelpunkt stehen, sondern Familien, Friseure, Automechaniker und vor allem Kinder, die lustige Spiele wie „Das elektrische Bonbon“ (hier lernt man die ganze Welt der argentinischen Süßigkeiten kennen) oder ein „Bloody-Mary-Quartett“ spielen, das nach dem Prinzip von Auto-Quartetten funktioniert, aber Marienerscheinungen zum Inhalt hat.
Was hat Argentinien Mitte der 1970er mit uns zu tun? Das wird vielleicht klarer, wenn man Sätze wie diese liest, die alle in dem Buch vorkommen:
„Ich weiß sehr genau, was wir vermissen. Seriosität vermissen wir. Keine verklausulierten Botschaften, sondern zuverlässige Informationen.“ (488)
„Wir bekommen auf nachbarschaftlicher Ebene die Auswirkungen einer Politik zu spüren, die das Anprangern und Angstverbreiten toleriert, wenn nicht sogar salonfähig macht.“ (316)
„Aber wir dürfen nicht alles für bare Münze nehmen, was die Medien uns glauben lassen wollen. Vor allem dich sollte das Thema nicht weiter beschäftigen, es ist eine höchstkomplizierte Angelegenheit, die sogar Erwachsene überfordert. Verstanden?“ (374)
Die Spaltung eines Landes, die schließlich in der Katastrophe endet – ab 1976 gab es in Argentinien eine Militärdiktatur, die zahlreiche Opfer forderte – stimmt betroffen. Und die nachtleuchtende Madonna kann die in sie gesetzten Hoffnungen, alle, „die im Dunkeln tappen“ zu erleuchten, leider auch nicht einlösen.
Ein sprachlich und erzählerisch beeindruckendes Buch, das die Stimmung in einem krisengeschüttelten Land lebendig werden lässt.

María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten
erschienen am 15. August 2018

www.fischerverlage.de

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