Rezension: „Jahre später“ von Angelika Klüssendorf

„Das sind bloß sie, zwei Menschen, Mann und Frau“ – Angelika Klüssendorf erzählt von einem Hochstapler und einer Beschädigten

Der Narzisst ist seit einigen Jahren ein beliebter Topos in privaten Beziehungserzählungen. In Frauenforen finden sich zahlreiche Einträge von Betroffenen, die ihren Ex-Partnern eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Es gibt eine Vielzahl an Sachbüchern zum Thema, aber im Bereich der anspruchsvollen Belletristik wird das Phänomen erstaunlich selten verhandelt. Angelika Klüssendorf, die in den vergangenen sieben Jahren bereits zwei autobiographisch geprägte Romane („Das Mädchen“, 2011; „April“, 2014) veröffentlicht hat, schließt ihre Trilogie nun mit „Jahre später“ ab. Darin geht es um eine toxische Beziehung mit einem Mann, der wohl als Narzisst bezeichnet werden müsste. Ludwig, so der Name des Ex-Ehemannes, will mehr sein als er ist. In seiner maßlosen Selbstüberschätzung kennt er nur die eigene Großartigkeit. Er ist ein Hochstapler mit einem aufgeblasenen Selbst, ein mit Minderwertigkeitsgefühlen beladener Aufschneider, der in seinem Dominanzstreben äußerst aggressiv ist. Doch ich will jetzt keine Narzissmusdiagnose bemühen, zumal ich keine Psychologin bin – interessant ist allein, dass der Narzissmusdiskurs im Alltag sehr präsent ist, während er in der gehobenen Literatur eher ein Randphänomen zu sein scheint. Liegt es am oftmals zu stark vereinfachenden Täter-Opfer-Schema, das ein gewisses Schwarz-weiß-Denken widerspiegelt? Oder an der Scham, die mit dem Thema verbunden ist? Erwarten wir vor allem starke Frauen in der Literatur, die nicht Opfer werden, sondern Gestalterinnen sind?
Angelika Klüssendorf beschreibt die Beziehung sicher nicht nur schwarz-weiß und ihre weibliche Protagonistin April ist auch kein klassisches Opfer, sondern oftmals ganz schön trotzig und mutig. Die Autorin greift das literarisch durchaus beliebte Motiv des Hochstaplers auf, das eine lange Tradition hat und immer noch populär ist (vgl. u.a. Arno Franks „So, und jetzt kommst du“).
Alles fängt damit an, dass die Schriftstellerin Ende der 80er Jahre bei einer Lesung in Hamburg einen Mann mit kindlichen Zügen kennenlernt. Ludwig sitzt im Publikum und ist ganz schön dreist. Zunächst wimmelt sie den Angeber ab, der sich damit brüstet mit Samuel Beckett und allen möglichen anderen Geistesgrößen in Kontakt zu stehen. Auch seine Versuche, Aprils Sohn Julius zu beeindrucken, weist sie zurück. Doch als Beckett stirbt, denkt April doch an Ludwig und meldet sich bei ihm. Zwischen dem erfolgreichen Chirurgen und der Schriftstellerin entwickelt sich eine Amour fou. Ludwig will April immer nur beeindrucken, doch vieles lässt sie kalt. Schwüre, die er ihr abverlangt, „erdet sie ab“, so nennt sie die hinter dem Rücken gekreuzten Finger. April geht bereits als Beschädigte in die Beziehung. Ihre Kindheit und Jugend waren traumatisch – nachzulesen in den ersten beiden Bänden der Trilogie – warum sollte plötzlich alles eitel Sonnenschein sein? Wirkliche Nähe gibt es eigentlich zu keinem Zeitpunkt. Vielleicht, wenn die beiden Streiche aushecken, deren Opfer Ludwigs Kollegen oder die kniestige Nachbarin werden. Im Grunde leben die Liebenden aber nebeneinanderher. Er liebt im Wesentlichen nur sich und sie hat eine Menge mit sich selbst zu tun. Richtige Gespräche führt sie vor allem mit ihren Dämonen, Geistern, die sie aus den Horrorfilmen kennt, die Ludwig immer kauft. Als sie mit ihrem Sohn von Berlin nach Hamburg zieht, verliert sie auch ihr gesamtes soziales Umfeld. In Ludwigs Freundeskreis fühlt sie sich fremd. Und trotzdem heiratet sie ihn und bekommt ein Kind, den gemeinsamen Sohn Sam.
Sowohl April als auch Ludwig stürzen von einer persönlichen Krise in die nächste, ringen mit sich und der Welt – eines Tages findet sie Abschiedsbriefe im Arbeitszimmer ihres Mannes, die zeigen, wie leicht kränkbar er ist. Der Grund für seine Krise: Er bekommt den Chefarztposten nicht, den er sich so sehr wünscht und von dem er meint, dass er ihm zustehe. Seine Kollegen finden ihn zu unkollegial. Frustriert zieht er sich zurück, spielt nur noch Computerspiele und notiert in seinen Abschiedsbriefen an Kollegen, wer alles nicht zu seiner Beerdigung kommen darf.
Als er schließlich doch noch eine Chefarztstelle in Berlin bekommt, scheint sich die Gesamtsituation zu verbessern, denn Ludwig ist in puncto Status endlich dort, wo er hinwollte und April ist zurück in Berlin, bei ihren Freunden und Kollegen. Doch in Wirklichkeit ist gar nichts gut: „Ludwig ist der Meinung, er sei gestärkt aus seinen Krisen hervorgegangen. Für April sieht es so aus, als sei er nur härter geworden, er wird bei der geringsten Kritik wütend.“ (77) Die Fassade des charmanten Liebhabers bröckelt und als sich April zusehends in einer Abwärtsspirale der Selbstzerstörung wiederfindet, trennt sie sich. Die Trennung ist allerdings nicht von langer Dauer, denn Ludwig wirbt verstärkt um sie und sie geht schließlich darauf ein – auch wegen Sam, der an seinem Vater hängt. Eine Annäherung findet aber nicht statt, so dass es endgültig zum Bruch und zur Scheidung kommt, die Ludwig derart kränkt, dass er all die ihm zur Verfügung stehende Macht missbraucht: „Deine Schonzeit ist nun abgelaufen, sagt er. Ich werde dich zertreten wie einen Parasiten.“ (127)
Wie Hannibal Lecter verfügt Ludwig nur über die „zweckgebundene Empathie“ (127) des Psychopathen. Das Ganze mündet schließlich in einen Rosenkrieg, der absurde Blüten treibt…
Angelika Klüssendorf hat das Psychogramm einer toxischen Beziehung geschrieben, das mich als Leserin immer wieder darüber nachdenken ließ, wie ein derartiges Verhalten möglich ist. Wie kann ein Mensch, der behauptet, einen anderen zu lieben, eine Vergangenheit zurechtlügen, die nichts mit der Realität zu tun hat? Der statusbesessene Ludwig behauptet z.B., aus einer wohlhabenden Familie zu kommen und einen Bruder zu haben, der Mitarbeiter der NATO wäre und Geheimprojekte durchführe. Solche Räuberpistolen denkt man sich vielleicht mit 8 aus (also, ich hab das auf alle Fälle in dem Alter gern mal gemacht…), aber als Erwachsener müsste man sich doch eigentlich dessen bewusst sein, dass das wenig glaubwürdig ist.
Klüssendorf, die die unpersönliche Perspektive der außenstehenden Beobachterin gewählt hat, wahrt stets die Distanz zu ihren Figuren. Ihr knapper Stil und die zahlreichen Nebenerzählungen – manch erheiternde Anekdote findet sich auch darunter – machen aus „Jahre später“ einen intensiven Bericht, bei dem sich die Erzählerin zu keinem Zeitpunkt in der Erzählung verliert. Damit wird das geschriebene Wort zu einem Mittel der Selbstermächtigung. Am Ende steht ein Beginn: Der letzte Satz ist gleichzeitig der erste Satz des Romans „Das Mädchen“, den ich zeitnah auch lesen werde.
Die Debatte um den Realitätsgehalt der Geschichte ist für viele LeserInnen natürlich von großem Interesse. Ist Ludwig Frank Schirrmacher, der Ex-Mann Angelika Klüssendorfs? Immerhin gibt es zahlreiche Parallelen zwischen dem 2014 verstorbenen Herausgeber der FAZ und dem Chefarzt und Chirurgen Ludwig. Beide haderten mit ihrer eigenen Vergangenheit und kreierten sich kurzerhand eine, die in ihren Augen besser zu ihnen passte, beide waren statusbewusst und hatten kindliche Züge. Aber so einfach ist es nicht. Angelika Klüssendorf hat vor allem ein starkes Stück Literatur erschaffen und es sich damit nicht gerade leicht gemacht.
Das Ende klingt kathartisch – obwohl, oder gerade weil „Scheiße durch die Luft“ (157) fliegt: „Das sind bloß sie, zwei Menschen, Mann und Frau.“ (157)

Angelika Klüssendorf: Jahre später
erschienen am 29. Januar 2018
www.kiwi-verlag.de

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