Rezension: „Hysteria“ von Eckhart Nickel

„Alles, was wir sehen und je gesehen haben, ist nur Traum in einem Traum“ – Eckhart Nickel erzählt von der künstlichen Existenz

Es gibt diesen Witz, der in einem Blumenladen spielt. Ein Mann möchte wissen: „Sind diese Blumen künstlich?“ Die Floristin antwortet: „Natürlich!“ Der Kunde möchte sich rückversichern: „Natürlich?“ Die Floristin korrigiert ihn: „Nein, künstlich!“ Der Mann versteht nicht: „Also, künstlich oder natürlich?“ Die Floristin genervt: „Natürlich künstlich!“
Eckhart Nickels Roman „Hysteria“ fängt zwar nicht in einem Blumenladen, sondern auf einem Markt an, aber die Verunsicherung, die Bergheim empfindet, als er seltsam aussehende Himbeeren entdeckt, ähnelt der des Blumenkäufers. Der hypersensible Mann ohne Vornamen, macht sich auf die Suche nach dem Ursprung der unnatürlich verfärbten Früchte und landet in einer landwirtschaftlichen Kooperative namens „Sommerfrische“. Auf dem Markt sieht er noch ein verletztes Rind, dessen Schürfwunde ihn zutiefst verstört.
Mit der Suche nach den Ursachen für die nur von ihm wahrgenommenen Veränderungen, landet er in einer Welt, die ihn immer stärker verunsichert, denn das Natürliche ist durch das Künstliche ersetzt worden. Alle Nahrung ist nur noch Surrogat… Im „Kulinarischen Institut“ trifft Bergheim auf Charlotte, eine ehemalige Studienfreundin und Geliebte. Er verliert sich in Erinnerungen an die Studienzeit und erlebt in der Gegenwart Auswüchse einer kulinarischen Dystopie: In einer Duftbar kann man Reisen unternehmen, die im schlimmsten Fall tödlich enden, am „Psychologischen Institut“ kann man sich künstliche Natursubstanzen besorgen, die einen wach machen oder entspannen. Kaffee, Alkohol und Energydrinks auf Taurinbasis sind längst verboten, da sie unberechenbare natürliche Substanzen enthalten und natürlich Ressourcen ausgebeutet werden. Künstlichkeit gewährleistet Perfektion und damit Sicherheit. Und Künstlichkeit soll vor allem die „gastronomische Ausbeutung der Natur“ (202) unterbinden. Das höchste Gebot einer Öko-Sekte namens „Rousseau-Husaren“ (wir erinnern uns: „Zurück zur Natur!“ und so…) ist das „spurenlose Leben“ (53).
In „Hysteria“ geht es auch um Künstlichkeit in der Liebe und in der Literatur, etwa in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ (130) und um Täuschung. Denn, wenngleich das Künstliche vielleicht (annähernd) perfekt zu sein vermag, so bleibt es doch immer nur Surrogat des Echten.
Das Ganze wird zum Schluss in Form eines Märchens enthüllt, das auch erklärt, warum sich künstlich hergestellte Stubenfliegen plötzlich unkontrolliert vermehren…
Künstlichkeit ist ein ausgesprochen interessantes philosophisches und gesellschaftspolitisches Thema, nicht nur in Bezug auf KI (Künstliche Intelligenz), sondern eben auch in Bezug auf künstliche Nahrung. Die Verunsicherung eines einzelnen Menschen, dem eine „chronische Dünnhäutigkeit“ (141) diagnostiziert wird und der nur deshalb überhaupt zum „Fruchtdetektiv“ (180) wird, ist kafkaesk. Keiner merkt was, nur einer fällt völlig aus der „Matrix“. Das ist gruslig, manchmal lustig (zumindest bei Nickel) und regt zum Nachdenken an. Welche Ansprüche haben wir an unsere Nahrung und lassen diese sich überhaupt miteinander vereinbaren?
Eckhart Nickel hat ein spannendes Thema aufgegriffen und in der Tradition der Schauerliteratur aufgearbeitet. Es ist eine kulinarische Dystopie, die bisweilen etwas verwirrend wirkt. Ich persönlich finde, dass das Buch einige Längen enthält, wobei sich das Ganze mit insgesamt 240 Seiten doch sehr im Rahmen hält.

Eckhart Nickel: Hysteria
erschienen am 4. September 2018
www.piper.de

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