Rezension: „Bungalow“ von Helene Hegemann

„Die erste große Leistung meines Lebens bestand in dem Entsetzen, das ich im Gesicht einer anderen Person ausgelöst hatte“ – Helene Hegemann erzählt von Vernachlässigung und Sehnsucht

Helene Hegemann ist in diesem Jahr die jüngste Autorin auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Vor acht Jahren machte die damals 18-Jährige im Zusammenhang mit Plagiatsvorwürfen von sich reden. Ihr Erstling, „Axolotl Roadkill“ enthielt zahlreiche Passagen anderer Autoren, die nicht genannt wurden. Mittlerweile ist Hegemann 26 und haut dem Leser mit „Bungalow“ einen Roman um die Ohren, der’s in sich hat. Helene Hegemann, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, die Alkoholikerin war und starb, als ihre Tochter gerade mal 13 Jahre alt war, widmet sich auch in „Bungalow“ dem Thema Alkoholismus.
Charlie ist nach der der Schauspielerin Charlotte Rampling benannt und lebt mit ihrer Alkoholikermutter in einer Hochhaussiedlung, in deren Zentrum sich 16 Bungalows befinden, die von Privilegierten bewohnt werden: „Die Millionäre und wir teilten uns dieselben Parkplätze und Grünstreifen, trotzdem klaffte zwischen uns ein tiefer Abgrund. Sie waren nicht unhöflich zu uns. Sie verallgemeinerten uns zu rücksichtslosen, unterdurchschnittlichen Menschen, die mit Horden nach Weichspüler stinkender Kinder von Kohlrouladen aus der Dose lebten.“ (48)
Für die 12-jährige Charlie ändert sich alles, als nebenan Georg und Maria in einen der Bungalows ziehen. Das Mädchen verliebt sich sofort in die beiden Enddreißiger – sie ist Schauspielerin mit russischen Wurzeln und er ihr Anhang und irgendwie kriminell. In der Schule lernt Charlie Iskender aus dem Libanon kennen. Er hat eine fürsorgliche Mutter und einen Vater, der einen kleinen Laden führt. Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern hält mehrere Jahre. Zuhause erlebt das Mädchen den puren Horror. Eine Mutter, die ständig unter dem Einfluss von Alkohol und Tabletten steht und sich nicht um das Mädchen kümmert, sich nur ab und zu dazu aufraffen kann, überhaupt aufzustehen. Die Tochter achtet penibel darauf, spitze Gegenstände zu verstecken und wird doch eines Tages mit einem Küchenmesser bedroht. Auch heiße Bügeleisen gehören zum Repertoire der Mutter. Diese ist gleichzeitig beherrscht von einem ausgeprägten Distinktionsverhalten: Sie verachtet sowohl Menschen, die ihr als noch verwahrloster erscheinen als auch die Reichen, mit denen sie ebenfalls Tür an Tür lebt. Im Prinzip hasst sie so ziemlich alle.
Als Georg und Maria im benachbarten Bungalow einziehen, ist es um Charlie geschehen: „Ich war wie dieser Schwan, der sich in das Tretboot verliebt hat.“ (239) Aus der Vernachlässigung erwächst eine Sehnsucht – aber nach was eigentlich? Nach Aufmerksamkeit? Danach, gesehen zu werden? Unter ihrem Ruf als „schwer durchschaubarer Assi“ (243) leidet sie an der weiterführenden Schule sehr. Ein Lehrer weist sie vor der Klasse darauf hin, dass sie unangenehm riecht – eine der größten denkbaren Demütigungen. Beschämt geht sie nach Hause und verliert sich immer mehr in ihrer Scham, die sie allerdings nicht davon abhält, ihre Nachbarn zu beobachten und zu stalken. Durch die Augen der anderen nimmt sie sich schließlich als „bedenklicher Fall von Verkommenheit“ (254) wahr.
Und doch gelingt es ihr, das Paar von nebenan, bei dem sie zunächst auf Ablehnung stieß, für sich zu gewinnen. Das wird bereits auf den ersten Seiten klar, denn dort liest man, dass Georg sie von hinten nimmt, während Maria sich langweilt – und das alles in einem unwirklichen Endzeitszenario. Und das ist das seltsame an dem Roman, der eigentlich ziemlich großartig ist… Helene Hegemann hat dystopische Elemente eingebaut, die irgendwie unpassend anmuten, zumal die Dystopie nicht konsequent durchgezogen wird, sondern immer nur am Rande einfließt. Da ist mal die Rede von einer Ozonwarnung, wegen der man das Haus nicht verlassen darf. Auf dem Schulweg liegen massenhaft Tierkadaver, eine unerklärliche Selbstmordwelle erfasst die Stadt – dauernd springen Leute von Hochhäusern oder erhängen sich. Manchmal fallen sie aber auch ganz banalen Unfällen zum Opfer, zum Beispiel ersticken sie an einem Lippenstift, weil sie sich beim Autofahren geschminkt haben und eine Vollbremsung hinlegen mussten… Es gibt einen Krieg und Drohnen fliegen durch die Gegend. Wie meint Hegemann das, die Charlies Geburt um die Jahrtausendwende verortet? Ist dieses Endzeitszenario rein symbolisch gemeint? Wirken ihre Worte wenige Tage nach den Vorfällen in Chemnitz nicht beinahe schon prophetisch? „Du musst nicht hungern, um dir eine gewaltvolle Umwälzung der Verhältnisse herbeizuwünschen, du musst dich langweilen. Klaglos vor dich hinversanden und ahnen, dass diese Welt dich nicht nötig hat.“ (227)
Abgesehen von den irritierenden dystopischen Elementen fand ich Hegemanns dritten Roman sehr gut. „Bungalow“ hat mich ein bisschen an Alina Bronskys „Scherbenpark“ erinnert, enthält aber noch mehr gesellschaftspolitischen Sprengstoff.

Helene Hegemann: Bungalow
erschienen am 20. August 2018
www.hanser-literaturverlage.de

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